„Bist du auf Unendliches bezogen?“

| Von Robert Harsieber |

Sie ist das Motto der Frankfurter Jung-Gesellschaft, für den Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung die entscheidende Frage des Menschen überhaupt: „Bist du auf Unendliches bezogen?“ Darin drückt sich nicht nur aus, dass der Mensch immer mehr ist als bloß Menschliches, sondern auch, dass Bezogenheit – im patriarchalen Denken – der äußerst mögliche Ausdruck des Weiblichen ist. Jung ist als Person durchaus ein Vertreter des Patriarchats, der aber die „weibliche“ Welt des Unbewussten entdeckt und erforscht.

Psychisches als „objektive Tatsache“?

Im patriarchalen Umfeld der Wissenschaft beginnt also C.G. Jung sich mit der Innenwelt zu beschäftigen. Dabei besteht er darauf, Naturwissenschaft zu betreiben. Sein „Gegenstand“ ist die innere Natur des Menschen, die aus der Naturwissenschaft für gewöhnlich ausgegrenzt wird. Für Jung ist dies eine Gratwanderung: Man kann Psychisches als objektive Tatsachen erforschen, die jedoch – anders als in der Außenwelt – individuell sind. Objektiv ist das Muster, die Ausgestaltung ist individuell. Dass dies im Außen prinzipiell genauso ist – denken wir nur an Kristallstrukturen – wird in der Naturwissenschaft unterschlagen.

In der Sprache der Psychologie ist das Denken der Physik Newtons ein zutiefst männlich-fragmentierendes Denken. Es geht immer um Dinge und Teile und immer kleinere Teile. Noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts suchte man die kleinsten Bausteine der Welt und glaubte dann zu wissen, wie die Welt aufgebaut ist. Ein Irrglaube, wie sich herausstellte. Die kleinsten Strukturen sind keine Dinge oder Teilchen, sondern etwas ganz anderes, für das wir keine Anschauung haben. Oder wie es Hans-Peter Dürr formuliert: keine Teilchen, sondern Beziehung, aber auch nicht Beziehung von etwas, sondern nur Beziehung. Dies ist im Grunde nur mit „weiblichem Denken“ zu erfassen.

Psychische Phänomene sind keine Dinge, sondern Strukturen, die Beziehungen ausmachen.

Komplexe sind in der Psychologie Jungs keine abgegrenzten Entitäten, sondern umfassende Beziehungen oder Beziehungsmuster. Der Ich-Komplex z.B. beschreibt alles, was auf das bewusste Ich bezogen ist. Kein „Ding“, sondern dynamische Beziehung, die sich ständig verändern kann. Schwierig wird es, wenn Jung von der Ich-Selbst-Achse spricht. Das Selbst ist ein zentraler Begriff der Analytischen Psychologie, aber als Archetypus unbewusst und nur zu umschreiben als Zentrum und Umfang der Psyche als ganzer. Symbolisch ist das Selbst Punkt und Kreis zugleich, wobei der mathematische und der symbolische Punkt nichts unendlich Kleines sind, sondern quasi ein Nichts. Und der Kreis drückt symbolisch auch nicht unendliche Ausdehnung aus, sondern quasi alles und nichts – das ganz Andere. Für Jung entspricht das Selbst den Gottesvorstellungen, was – wie er betont – nichts über die Existenz oder Nicht-Existenz eines Gottes aussagt. Es ist einfach psychische Realität. Das wiederum trug ihm den Vorwurf der Psychologisierung von Religion ein.

Jung war ein Pionier und Grenzgänger: zwischen Außen und Innen, zwischen Physis und Psyche, zwischen Psychologie und Spiritualität. Was Jung vom Selbst aussagen konnte, war das Äußerste, das ihm die naturwissenschaftliche Terminologie und das westliche Denken erlaubten. Einmal antwortete er in einem Interview auf die Frage, ob er an Gott glaube oder nicht, spontan: „Ich glaube nicht, ich weiß!“ Diese Antwort hat ihn selber überrascht, wie er dann zugeben musste, aber es war wohl eine Äußerung seines (unbewussten) Selbst. Meister Eckhart sagte schon, am Grunde der Seele finde sich das, was man allgemein als „Gott“ bezeichne. Jung hat es als Selbst bezeichnet und meinte damit genau dies. Man könnte sich von traditionellen Vorstellungen von äGott verabschieden, und es – wie Jung – das „Numinose“ nennen.

Nicht Begriff, sondern Erfahrung

„Bist du auf Unendliches bezogen…?“ — Worauf es ankommt: Dieses Unendliche ist nicht der abstrakte rationale Begriff des Unendlichen, sondern das „Numinose“, kein Begriff, sondern eine Erfahrung. Ein Ergriffen- und Überwältigt-Sein von „etwas“, das über das bewusste Ich hinausgeht. Da es von außerhalb des Ich kommt, wird es als Außen erlebt oder nach außen projiziert. Es ist aber tiefenpsychologisch innen, es kommt aus der eigenen Tiefe (die auch außerhalb des Ich ist), aus dem Selbst, aus der Ganzheit des eigenen Seins. Ganzes ist immer unsagbar und unnennbar. Es ist daher gleich gültig, ob ich sage, es sei ein „Göttliches“, oder ob ich sage, es sei ein Innerstes.

© 2024 Robert Harsieber

Die Trinität und das Weibliche

Zur Rolle des Weiblichen in der Religion

| Von Robert Harsieber |

Wir wissen, dass C.G. Jung applaudiert hat, als der damalige Papst Pius XII. am 1. November 1950 das Dogma der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel verkündete. Die Trinität war bis dahin ein reiner „Männerverein“, dem das Weibliche völlig fremd war. Jung sah das auch unter dem Aspekt der Quaternio, dass die Drei unvollständig sei und nur die Vier die Ganzheit darstellt.

Nun ist Symbolik immer vielschichtig und mehrdeutig. Eine vorgelagerte Ebene ist, dass die Vier das Materielle und die Drei das Geistige bedeutet. In der Zahlensymbolik sind die geraden Zahlen weiblich und die ungeraden männlich. Es ist also durchaus sinnvoll, dass die materielle, weibliche Welt durch die Vier und die geistige, männliche Welt durch die Drei symbolisiert wird. Von daher wäre es nicht so stimmig, der Trinität ein Viertes hinzuzufügen.

Andererseits geht es in der „unteren“ Welt um das Ziel der Vereinigung der Gegensätze, der Individuation, während in der „oberen“ geistigen Welt die Vereinigung (als Androgynität) als noch nicht geschieden, als untrennbar vorausgesetzt ist. Das wird in der katholischen Welt unterschlagen, während im Alten Testament z.B. Gott Vater genauso gut Gott Mutter genannt werden könnte, weil ihm mindestens ebenso viele weibliche Attribute (z.B. Barmherzigkeit) zugeschrieben werden.

Sophia — die Weisheit ist weiblich

Aber auch in der Trinität wird dem Heiligen Geist eine verbindende Eigenschaft zugeordnet: er sei das Verbindende, die Liebe zwischen Vater und Sohn. Das Verbindende ist aber unzweifelhaft eine weibliche Eigenschaft, wie auch die Liebe, die Empathie usw. Kein Wunder daher, dass in der Gnosis der Heilige Geist zur weiblichen Sophia wird. Das entspricht der Ambivalenz oder eben der Androgynität der Archetypen. „Geist“ ist zwar männlich, aber „Weisheit“ ist weiblich. Und Archetypen sind immer ambivalent.

In der Kirche ist eine katastrophale schleichende Vermännlichung festzustellen: Die Apostelin Maria Magdalena wird verschwiegen, marginalisiert und zur bekehrten Prostituierten stilisiert, weibliche Apostel werden vermännlicht, indem man ihnen einfach einen männlichen Namen umhängt. Die Diakone waren ursprünglich wahrscheinlich zu einem großen Teil Frauen, die für die Männer gesorgt haben. Das radikal emanzipatorische Verhalten Jesu gegenüber Frauen wird unterschlagen. Würde die Kirche sich in der Stellung der Frau an Jesus halten, wäre sie dem Feminismus um Jahrzehnte voraus. Es überrascht somit nicht, dass das Dogma der leiblichen Aufnahme Marias in den Himmel kein theologischer Paukenschlag war, sondern im katholisch-männlichen Grundrauschen untergegangen ist.

Von der Symbolik her hat das aber auch einen anderen Grund. Wenn wir davon ausgehen, dass die geistige Welt durch die Drei, also die Trinität charakterisiert bleibt, dann ist es nicht so ganz stimmig, der Trinität so mir nichts, dir nichts ein Viertes beizustellen, ohne für eine entsprechende Integration zu sorgen. Das ist auch nicht so einfach. Die Kirche hat seit jeher eine, sagen wir, ambivalente Haltung zur Symbolik. Dem gemeinen Volk wurde sie nie zugemutet, was sich auch darin zeigt, dass früher z.B. die Messe fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit gefeiert wurde – der Altarraum war abgetrennt vom Kirchenschiff, in dem die Gläubigen den Rosenkranz beteten. Und im Laufe der Zeit kann man eine gewisse Selbstvergessenheit der Kirche, was ihre eigenen symbolischen Grundlagen betrifft, beobachten.

Die Vereinigung der Gegensätze

In den Religionen geht es genau genommen nicht um den „Glauben an Gott“, sondern um den Menschen in dieser Welt, um das, was den Menschen zum Menschen macht – um die Menschwerdung! Um einen spirituellen Weg, der zur Individuation, zur Vereinigung der Gegensätze führt. Diese Gegensätze sind symbolisch das Weibliche und das Männliche. Dieser Weg, dieses Opus wird auch als Quadratur des Kreises bezeichnet. Es ist aber auch die Vereinigung der Vier (der materiellen Welt) mit der Drei (der geistigen Welt). Damit ist das Ziel des Lebensweges in dieser Welt angegeben: sich des Unterschieds und der Einheit der Vier und der Drei bewusst zu werden. Der Weg Israels durch die Wüste dauert vierzig Tage – er führt durch das Ganze der materiellen Welt. Aber Gott geht mit dem Volk – die Drei ist immanent und führt Israel durch die Wüste der Vier. Am Ende wird diese Einheit von Vier und Drei bewusst – was in Summe sieben ergibt. Moses als Repräsentant dieses Weges durch die Wüste kann selbst nicht mit ins gelobte Land – denn das ist der achte Tag.

Nach einem uralten Gesetz („Wie oben, so unten“) muss es diese Vereinigung der Gegensätze (von männlich und weiblich) auch „oben“ geben. Genau genommen ist „oben“ das schon präexistent, was „unten“ erst durch den Pilgerweg bewerkstelligt werden muss: die Einheit der Gegensätze. Im christlichen „Männerverein“ der Trinität war das aber verschleiert. Der Hl. Geist ist zwar das Verbindende, aber verkleidet als Männliches. Die leibliche Aufnahme Marias in den Himmel war der Versuch, das Weibliche in den Himmel, in die geistige Welt einzuschleusen. Nun steht die „Gottesmutter“ neben der Trinität, und man weiß nicht so recht, warum und wieso? Die Erschütterung des katholischen Weltbildes ist ausgeblieben.

Eine Quadratur des Kreises?

Die Frage ist daher: Wie bringt man Maria, das weibliche Prinzip, in die Trinität hinein? Eine Vier daraus zu machen, damit die Ganzheit entsteht, kann es auch nicht sein, denn die Vier ist die Ganzheit in der materiellen Welt. Die Trinität in eine Quaternio umzuwandeln, wäre eine Verweltlichung der geistigen Welt. Die „Lösung“ kann auch hier nur eine Quadratur des Kreises sein, nämlich die Gottesmutter mit dem Hl. Geist zu verschmelzen, in dem ohnehin die Sophia steckt. Außerdem sind Archetypen immer ambivalent, ganz besonders in der vorweltlichen Form. Daher ist der „Männerverein“ nicht bloß männlich, der Vater ist auch Mutter (nur eben nicht unterschieden), der Sohn auch Tochter und der Hl. Geist auch Sophia – nur jeweils als eines. Und Maria wurde ohnehin schon auf Erden zur Sophia gemacht, indem sie durch ihre unbefleckte Empfängnis dem Irdischen enthoben wurde.

Eine Alternative wäre eine andere („östliche“) Lesart der Schöpfung: Über allem ist Gott als Unendliches, Unnennbares. Der erste Impuls zur Schöpfung ist die innere Dualität in der Einheit – die Ur-Einheit, die männlich und weiblich ist und aus der dann die „zehntausend Dinge“ hervorgehen. In christlicher Lesart die Vereinigung von Gott-Vater und göttlicher Mutter/Sophia, aus der als Drittes Sohn/Tochter – die Welt der Dualität entsteht.

Das für uns Zentrale ist aber die Inkarnation: Der Hl. Geist verbindet sich mit Maria. Aus Geist (männlich) und Materie (weiblich) wird Jesus, der Christus, geboren. Maria hat durch ihre unbefleckte Empfängnis als Irdische schon etwas Göttliches an sich. Jesus ist durch seine „Eltern“ also ganz Gott und ganz Mensch. Seine Mission ist es, zu zeigen, was Menschsein bedeutet. Es geht in den Religionen um den Menschen, um das Menschsein. Er hat das „Oben“ und „Unten“, „Himmel“ und „Erde“ immer schon in sich.

Integration des Schattens

So kommt bei der Quadratur des Kreises noch eine weitere Kompilation dazu: Die Welt der Vier ist auch eine Welt der Dualität – sie hat eine helle und eine dunkle Seite, auch wenn sie nicht getrennt, sondern immer vermischt sind. Es gibt nicht nur die Welt, sondern auch eine Unterwelt. Man kann sie „Hölle“ nennen, stimmiger ist aber die griechische Bezeichnung als „Schattenwelt“. Bei Jung wäre es die Welt des Schattens. Den zu integrieren ist die erste Aufgabe auf dem Weg zur Individuation. Vor allem in der Ostkirche führt der Weg zur Erlösung Jesus zuerst in die Unterwelt („in das Reich des Todes“) am Karsamstag, ohne den es keinen Ostersonntag geben kann. Aber auch das wird unterschlagen: Der Karsamstag degenerierte zur Ruhe im Grab, wodurch die Dramatik der Befreiung der Hölle unterschlagen wurde.

Es ist daher nur folgerichtig, dass die Kirche heute massiv mit ihrem eigenen Schatten (Gestalt geworden in der Pädophilie) konfrontiert wird und dass sie sich auch mit der Anima, der Weiblichkeit auseinandersetzen oder besser zusammensetzen muss, weil sie sonst gar nicht ganz werden kann.

© 2024 Robert Harsieber

Pilgerfahrt zum Menschsein

Ein Gastbeitrag von Shahab Sanjari

Mir frieren die Fingerspitzen und das Gesicht. Ich kann den Auslöser der Kamera kaum mehr drücken. Sobald man als Fremder einen Fuß auf dieses riesige Areal setzt, hat man eigentlich nichts anderes zu tun als Tourist zu sein. Anfassen darf man nichts, alles ist weiträumig abgesperrt und streng bewacht, unerreichbar. Nur Beobachten ist erlaubt: Beobachten, wie die Zeit vergangen ist und wie sie jetzt vergeht, die zerkratzten, jahrhundertealten Gegenstände, Gesichtszüge der Besucher.

Die Verbotene Stadt strahlt in allen Farben und in Gold unter der Mittagssonne eines wolkenfreien Dezembertags. Manchmal ist der Wind so stark, dass ich mit dem Rücken zu ihm laufe, um mein Gesicht bei minus 15 Grad vor seinem kalten Schlag zu schützen, während ich von einem Palast zum nächsten gehe, in denen historische Sammlungen von Porzellan oder Kalligraphie ausgestellt sind.

C. G. Jung war mir nicht bekannt. Mit psychologischen Themen hatte ich so gut wie nie zu tun. Als Naturwissenschaftler beschäftigte ich mich mit Laborexperimenten, Datenanalyse, Programmierung, Publikationen und Vorträgen auf internationalen Fachkonferenzen. In meinem Elfenbeinturm der reproduzierbaren Fakten und klaren Algorithmen hatte die psychologische Empirie keinen Platz. Die Psyche und ihre Geheimnisse blieben mir verschlossen. Ich konnte keinen Zugang zu ihr finden und hatte kaum Hoffnung, jemals über den Tellerrand der wissenschaftlichen Faktenwelt hinausblicken zu können.

Das änderte sich, als ich eines Tages beim Joggen zufällig ein Interview mit der Theologin und Historikerin Elaine Pagels über das apokryphe Thomasevangelium hörte: „Wenn ihr jenes in euch hervorbringt, wird euch das, was ihr habt, erretten. Wenn ihr jenes nicht in euch habt, wird das, was ihr nicht in euch habt, euch töten.“ Thomas hat ein Evangelium geschrieben, von dem ich nichts wusste. Meine Neugier war geweckt. Eine Lektüre nach der anderen und immer auf Umwegen fand ich Hinweise auf C. G. Jung. Irgendwann wurde mir klar, dass es in seinen Werken viel zu entdecken gibt.

Es ist sehr anstrengend, ich bin müde und hungrig. Aber ich muss durch. Den Eintritt habe ich bezahlt, die strenge Sicherheitskontrolle hinter mir. Der Ausgang ist vor mir ganz klein am Horizont, dort, wo Scharen von Taxifahrern und Tour- Guides nur darauf warten, dass ich das Drehkreuz, den Point of No Return, passiere. Irgendwann muss ich hier raus, das weiß ich. Sicher ist auch, dass ich heute noch meinen Flieger erwischen muss. Aber hier in der Eiseskälte scheint das eher eine Arbeitshypothese zu sein als eine tiefe Erkenntnis, hier und jetzt habe ich mit anderen Problemen zu kämpfen.

Also tue ich so, als wäre ich interessiert. Im Palast der himmlischen Reinheit mache ich Fotos, schräg, unscharf, mit Ladekabel im Bild oder unterbelichtet. Schau her! Das sind Haarklammern von den zahlreichen Konkubinen des Kaisers, eine Sammlung aus der Ming- und Qing-Dynastie, einige mit hübschen weißen Blümchen an breiten Enden: Knips! Kaisers Siegel in Mandschu, das muss ich unbedingt mal nachgooglen, sobald ich wieder da bin: Knips! Eigentlich ist es mir draußen viel zu kalt, aber hier vor den Adleraugen des Museumswärters kann ich nicht untätig herumstehen: Knips!

Jung war in vielerlei Hinsicht ein Pionier der Psychologie. Aber er hat der Welt mehr gegeben als eine reine Wissenschaft der Psyche. Im Mittelpunkt seines Denkens steht die ganzheitliche Entwicklung des Menschen. Dies verleiht seinen Methoden neben dem therapeutischen Charakter auch eine wegweisende Dimension.

Während Jung über die Inhalte der Psyche schreibt, behält er seine nüchterne empirische Haltung bei. So, wie der menschliche Körper ist, wie er ist, so ist auch die menschliche Psyche, wie sie ist. Neben der Struktur und den Inhalten der Psyche beschreibt Jung ihre Dynamik, d.h., wie sich psychische Zustände im Laufe der Zeit verändern können. Die Jungsche Welt der Psyche ist eine sehr pragmatische, aber zugleich eine irdische, zeitgebundene Welt. In dieser Welt ist das Menschsein ein ganzheitliches Bild.

Die Verbotene Stadt besteht aus vielen ineinander verschachtelten Höfen. Ein schweres Tor nach dem anderen verschließt die inneren Bereiche. Niemandem wurde jemals ein Blick ins Innere der Stadt gewährt ohne des Kaisers Erlaubnis. Und selbst dann waren die Privatpaläste nur ausgewählten Personen zugänglich. Ich arbeite mich von außen nach innen vor, vom Palast der irdischen Ruhe zur Halle der höchsten Harmonie. Vor jedem Tor wacht ein steinernes Fabelwesen, ein Feuerlöwe, ein Feuerdrache, einmal sogar eine Feuerschildkröte mit amphibienuntypischer Knubbelnase. Gleich neben dem Eingang jedes Palastes ein großes Messingfass als Löschwasserbehälter. Ist das ironisch?

Das Unbewusste kann viel mehr verbergen als einem genehm sein mag. Ihm zu begegnen, erfordert Mut, denn neben Verdrängtem, Vergessenem und einer gehörigen Portion Unsicherheit lauern dort auch Gegensätze. Nie fühlt sich das Bewusstsein unbehaglicher als in der Begegnung mit Gegensätzen. Aber gerade diese Begegnung, dieses Eintauchen ins Unbekannte, ist die Voraussetzung für die psychische Vollständigkeit.

Das Bewusstsein ist ein treuer Hund, der evolutionsbedingt den Menschen jederzeit bestmöglich verteidigen will. Der Mensch taucht in das Unbewusste ein, indem er seine Schattenseite schrittweise akzeptieren lernt. Bello lässt aber nicht so einfach locker: „Da unten ist es gefährlich, lass uns draußen weitersuchen, oder vielleicht jemanden fragen, der es besser weiß, oder in den Büchern nachschauen“, zupft er an meiner Hose und versucht seine Idealbilder, die er wie zerkaute Tennisbälle um sich herum platziert hat, mitzuschleppen. Was er nicht weiß, ist, dass das, was im Inneren verborgen ist, niemals draußen gefunden werden kann. Den treuen Hund muss man überwinden. Thomas wusste, wie.

Ich verlasse die Halle der Berührung von Himmel und Erde. Es ist kurz vor Sonnenuntergang. Knapp vor Kassenschluss habe ich noch eine Eintrittskarte für den Himmelstempel ergattert. Die prächtig in den Himmel ragende runde Halle der Ernteopfer lässt sich vom mittlerweile ozeanblauen Himmel, der zaghaft untergehenden Sonne und dem jungen aufgehenden Mond nicht beeindrucken. Der eisige Wind lässt nicht nach, aber ich bin entschlossen, die endlos erscheinenden Stufen hinaufzusteigen.

Das Jungsche Denken ist an sich nicht sonderlich spirituell. Dennoch führt eine Spiritualität, die in diesem ganzheitlichen Menschenbild fußt, zu einer Haltung der Demut, der Akzeptanz der Vergänglichkeit und damit zu einer Hoffnung auf ein Besseres, einer Hoffnung, die sich durch ein aktives Streben auszeichnet und um einen inneren Frieden zentriert ist. Der äußere Friede in der Welt wird dann wohl nur eine Folge davon sein.

Ich schaue in die Halle der Ernteopfer hinein. Ich stelle mir vor, wie ich die Treppe des zentralen Altars bis zum höchsten Punkt hinaufsteige. Dort oben ist nichts als eine graue Wand. Hinter mir eine Zweiundzwanzig-Millionen-Stadt, hinter mir eine ganze Welt, für die die Sonne noch aufgehen wird. Vor mir nichts mehr, nur noch Finsternis. Ich will nicht mehr fragen, zu wem und wie genau hier gebetet wurde, ich will es auch nicht googlen. Stattdessen danke ich für alles, was mir geschenkt wurde, schließe die Augen und bete einfach. Ich bete, dass meine Reise ins Innere gesegnet ist, meine Pilgerfahrt zum Menschsein.

© 2024 Shahab Sanjari, Frankfurt am Main — https://anglingphilosopher.wordpress.com

Die Überwindung des Patriarchats

| Von Robert Harsieber |

In der Zeit des Mythos lebte der Mensch noch in der unbewussten Ganzheit. Es gab noch keine Trennung zwischen Diesseits und Jenseits, Körper und Geist, Bewusst und Unbewusst. Das Bewusstsein war noch dominiert vom (symbolisch weiblichen) Unbewussten. Evolution ist — psychologisch gesehen — die Entwicklung von Ich-Bewusstsein, das sich gegen Unbewusstes abgrenzen muss. Die Entwicklung des (symbolisch männlichen) Ich-Bewusstseins fördert männlich-fragmentierendes Denken. Damit verbunden ist die Verdrängung des Unbewussten, letztlich die Abwertung eines weiblich-ganzheitlichen Denkens. Das Ergebnis ist die Entwicklung patriarchalen Denkens hin zur Etablierung patriarchaler Herrschaftsstrukturen.

Die Institution der Kirche ist mit dieser Struktur verbunden. Die Kirchenleitung ist der (männliche) Kopf, die Gemeinde der (weibliche) Körper. Die Kirche als „Braut Christi“ verdrängt paradoxerweise ihre Weiblichkeit, um die Dominanz eines männlichen Klerus zu sichern. Die Abwertung des Weiblichen geschieht aus Angst vor dem Unbewussten, aus dem alles Bewusstsein hervorgeht.

Das ist auch der Hintergrund der Diskussionen um die Rolle der Frau in der Kirche. Wir stehen am Ende des Patriarchats und am Ende der patriarchalen Kirche. Das Neue muss Männliches und Weibliches, Bewusstes und Unbewusstes auf Augenhöhe verbinden. Die Psychologie widmet sich seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts dem Unbewussten. Das ist letztlich die Neuentdeckung des Weiblichen: des weiblichen, verbindenden, ganzheitlichen Denkens. Sogar die Physik stand zeitgleich in dieser Entwicklung: Die Quantenphysik ist nur mit einem weiblichen, ganzheitlichen Denken zu verstehen. Das fragmentierende männliche Denken ist damit überfordert.

Eine das Patriarchat überwindende Kirche müsste diesen weiblichen Geist anerkennen und aufnehmen. Daher war C.G. Jung so begeistert vom kirchlichen Dogma der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel. Der weibliche Mond-Geist der Sophia ist damit in den bisher männlich dominierten Himmel aufgenommen worden. In den Strukturen der Kirche ist bisher davon allerdings nichts zu bemerken. Die Frau hat weiterhin in der kollektiven Unbewusstheit des Kirchenschiffs zu verharren und das männliche Geschehen am Altar zu verfolgen.

Wir bewegen uns auf die Überwindung des Patriarchats zu, in der Männliches und Weibliches in diversen Erscheinungsformen einander auf Augenhöhe begegnen können, in der das Unbewusste integriert und Bewusstsein entgrenzt und so in das (ganzheitliche) unbegrenzte Selbst ausgeweitet wird: „Ich und der Vater sind eins“ (Joh 10,30).

Karl Rahner sagte kurz vor seinem Tod: „Die Kirche der Zukunft wird eine mystische sein oder sie wird nicht mehr sein.“ Mystik ist die Verbindung von Bewusstem und Unbewusstem, die Einheit der Gegensätze. Eine weiteres Fernhalten des Weiblichen und der Frauen aus der Kirche wird das Ende der Institution Kirche sein.

© 2023 Robert Harsieber

Quantenlogik und Lebenswelt

Ludger Verst über Harsiebers „Wege zu einem neuen Denken“

Wer auf diesem Portal unterwegs ist, kennt sie: die Beiträge von Robert Harsieber. Der Wiener Philosoph ist Gründungsmitglied der Frankfurter C.G. Jung-Gesellschaft; in seiner jüngsten Veröffentlichung „Quantenlogik und Lebenswelt“ geht es ihm um einen Brückenschlag von einem mehr oder weniger statischen Weltbild zu einem neuen, aus Quantenphysik und Analytischer Psychologie ableitbaren dynamischen Denken. Mit anderen Worten: Harsieber möchte verschiedene Disziplinen und deren Fachsprachen in eine Art synchrones Denken „übersetzen“, in eine einheitliche Sprache unter Wahrung der Verschiedenheiten und Eigenheiten. Für ihn ist das gleichbedeutend mit dem Projekt, an einem zeitgemäßen Weltbild zu arbeiten, denn das sogenannte „moderne“ Weltbild ist um 1900 steckengeblieben.

Wir leben heute in einer Zeit des Übergangs, in der die alten Weltbilder brüchig geworden sind und sich noch kein neues Weltbild etablieren konnte, obwohl vieles bereits klar vor Augen liegt. Der Schlüssel dazu ist das Aufgeben der Subjekt-Objekt-Spaltung, des logischen Entweder-Oder — und die Zusammenschau von Außenwelt und Innenleben. Alles ist dynamische Beziehung. Die Wirklichkeit ist feldartig; Objekte oder Dinge sind lediglich Abstraktionen, die für die Formulierung von Standpunkten kommunikativ notwendig sind.

Während das Denken der klassischen Physik dem modernen Menschen in Fleisch und Blut übergegangen ist und noch heute vorherrscht, bahnte sich ab 1900 ein grundsätzlich neues Denken an. Im Jahr 1900 veröffentlichte Max Planck sein „Wirkungsquantum“ und im selben Jahr Sigmund Freud seine „Traumdeutung“. Beides war das Betreten von Neuland. In den folgenden etwa 30 Jahren arbeitete eine ganze Riege von Nobelpreisträgern an der Entwicklung der Quantentheorie, um die Mikrodimension der Außenwelt zu erfassen – eine kollektive Leistung erstaunlichen Ausmaßes. Parallel dazu entwickelte C.G. Jung als Pionierleistung eines einzelnen seine Analytische Psychologie, die Erschließung der Innenwelt des Unbewussten.

Wer sich mit den Chancen und Herausforderungen dieses neuen, komplementären Denkens in unserer Lebenswelt auseinandersetzen will, sei jetzt schon auf eine Doppelveranstaltung im Februar 2022 in der C.G. Jung-Gesellschaft Frankfurt hingewiesen … und herzlich eingeladen:

Freitag, 11. Februar 2022, 19.00 – 21.00 Uhr
JUNG im DIALOG
Dr. Robert Harsieber, Wien
MATERIE und PSYCHE
Komplementäres Denken in unserer Lebenswelt

C.G. Jung und Wolfgang Pauli arbeiteten in ihrem Briefwechsel an einer „neutralen Sprache“ (Pauli) für Materie und Psyche, Physik und Psychologie. Der Vortrag bietet einen Einblick in Parallelen und Gemeinsamkeiten, die in allen Bereichen des Lebens auf je eigene Art gelten: um Teil und Ganzes, Außen und Innen, Kohärenz und Dekohärenz, Nicht-Lokalität und Wahrnehmung, um Unbewusstes und Synchronizität und um Archetypen als Grundmuster des Seins.

Wer tiefer in die Thematik einsteigen möchte, kann direkt am nächsten Tag ein Seminar zum Thema besuchen.

Samstag, 12. Februar 2022, 10.00 – 15.00 Uhr
Seminar
Dr. Robert Harsieber, Wien
Was ist REALITÄT? — Was ist WIRKLICHKEIT?
Mit der Quantenlogik die Welt neu sehen

Unserer alltäglichen Welt der Objekte und Personen liegt eine Welt des Unanschaulichen und des Unbewussten zugrunde. Spiritualität (Negative Theologie, „Nichts“, Advaita, Nirvana), Psychologie (Kollektives Unbewusstes, Archetypen) und Physik (Nicht-Lokalität, Potenzialität) sprechen eine je eigene Sprache und können doch dazu beitragen, ihr Sprechen über Unanschauliches lebensweltlich konkret werden zu lassen, sodass eine gemeinsame Sprache möglich, ja, notwendig wird. 

Ort: Aula der PTH Sankt Georgen・Offenbacher Landstraße 224・D-60599 Frankfurt a.M.

Zur Person: Robert Harsieber ist Philosoph und war als Journalist in den Bereichen Wissenschaft, Wirtschaft und Medizin tätig. Er beschäftigt sich seit langem mit der Analytischen Psychologie C.G. Jungs, mit Quantenphysik und asiatischen Weisheitslehren. Sein neues Buch „Quantenlogik und Lebenswelt“, Verlag Ibera / European University Press, ist 2021 erschienen.

© 2021 Ludger Verst

Luft(t)räume

Kleine Phänomenologie des Atmens

| Von Ludger Verst |

Ich ahne nichts Böses, als mit einem Schlag die Tür auffliegt und der Chefarzt ans Krankenbett herantritt. Freundlich nimmt er Anlauf: »Die Tests haben ergeben, dass Sie mit dem Corona-Virus infiziert sind.« Wie dieses Wort aus seinem Munde klingt …! — So ultimativ, so unwiderruflich — ganz anders als in den Nachrichten und Sondersendungen, die ich gesehen hatte.

Zum Glück verlässt der Arzt mein Zimmer bald. Ich will allein sein mit meinen Tränen. Rufe Jutta an. Beginne meinen Satz … — sie hört, sie weiß längst, was passiert ist —, bevor ich ihn zu Ende spreche. Wir weinen … und schweigen … und ringen mit Worten … .— Dann: Verlegung auf die Intensivstation, zunächst wohl nur für einen Tag, heißt es. Ein Bett und ein Beatmungsgerät sind gerade frei. Noch am selben Abend erwartet mich laute Betriebsamkeit. Menschen mit Mund- und Nasen-Masken, Menschen mit Helmen und Schutzanzügen um mich herum. Stiche links, dann rechts, um eine Arterie für die Blutgasanalyse zu finden, Infusionsschläuche, ein Pulsoxymeter und EKG-Kabel, die hinter mir zu Monitoren führen. Alles wird eingerichtet für meinen Aufenthalt. — Aus einem Tag Intensivstation sollen elf Tage und elf lange Nächte werden.

Ein Bündnis fürs Atmen

In der Lunge zeigen sich ausgedehnte, teils milchglasartige, teils flächig dichte Infiltrate, die meine Atemnot und einen hochgradigen Sauerstoffmangel im Blut verursachen. Kurz: Mein Zustand verschlechtert sich zusehends.

Eines Morgens, halb im Schlaf, halb noch im Fieber, träume ich, dass mir der Atem stockt, dass er mir ausgeht, es nicht mehr weitergeht. Und keiner mich hört bei diesen letzten Versuchen. »Do you hear me? — Hörst du mich?«, sende ich meiner Frau eine Message aufs Handy. Aus dem Krankenbett heraus schreibe ich einen Text in hörbarer Nähe zu einem Song von Imagine Dragons, der in der Stunde meines geträumten Todes mir Worte leiht für meine Not. Die Not, es aus eigener Kraft nicht mehr zu schaffen: »Maybe if I fall asleep, I won’t breathe right / Can nobody hear me? / I’ve got a lot that’s on my mind / I cannot breathe / Can you hear it, too?«

Ja, jemand hatte meinen stummen Schrei gehört. Weil die Blutgaswerte schlecht bleiben und ich in meiner Niedergeschlagenheit zwar noch atmen, aber nicht mehr kämpfen will, organisiert meine Frau ein Bündnis fürs Atmen. Unsere Familie, unsere Freunde, Kollegen und Nachbarn, alle, die sich in Anrufen, über SMS oder WhatsApp nach meinem Gesundheitszustand erkundigen, werden um ihr solidarisches Mitatmen gebeten: »Breathe in … breathe out!« — »Atmet für Ludger!« — Aus einer symbolischen Aktion erwächst ein gemeinsamer Atem, ein Rückenwind, der mich ins Leben zurückbringt, mir den Willen zum Selberatmen wiederschenkt.

Vielleicht ist dies die wichtigste, die nachhaltigste Erfahrung aus meinem Kampf gegen das Corona-Virus: Du bist, wenn es ums Ganze geht, nicht allein. Wenn dir die Luft ausgeht, wirst du von anderen ins Leben geatmet, in-spiriert. Atmen und Inspiriert- Werden gehören zusammen, zunächst organisch, später — vielleicht — auch logisch. Heute, anderthalb Jahre später, fühle ich mich imstande, über meine Krankheits- und Heilungsgeschichte aus theo-logischer Sicht etwas zu sagen. Aus der Erfahrung, wie gefährdet und verletzlich mein Leben ist, erwächst mir eine neue Aufmerksamkeit. Ich bin empfänglicher geworden — für das Kleine und Unscheinbare, für das Verborgene und darin oft Verwundete, für eine neue Dimension der Tiefe.

Tiefe im ursprünglichen Sinn ist eine Raum- oder Ortsbestimmung. Tiefe meint »unten«, in den tiefen Schichten, im Keller, im Dunkeln. Als Berater und Seelsorger weiß ich um das Helle und Dunkle im Leben und dass das Dunkle vor allem im Zwiespältigen, im Abgründigen und so eben oft als Krise in Erscheinung tritt. Mich aber nun hier selbst zu finden — im Dunkel eines Nicht-Mehr und Noch-Nicht —, heißt, sich auf die Routinen des Alltags nicht mehr verlassen zu können, hindurch zu müssen durch eine luft- und lichtlose Leere, als »wanderte ich in finsterer Schlucht« (Ps 23,4).

Körper sind »Existenz-Stätten«

Ich habe mein Krankenzimmer als eine solch heillose wie gleichermaßen heilsame, finsterhelle Schlucht erlebt, als einen »therapeutischen« Raum, in dem Unten und Oben, Inneres und Äußeres zu einem Organ verschmelzen, in das hinein ich selber mich erstrecke, ausgesetzt, um zu atmen. Selbstbegegnung in Gestalt einer körperlichen Erfahrung. Das hatte ich so noch nicht erlebt. Körper sind nicht etwas für sich Abgeschlossenes, »kein gefüllter, [… sondern] ein offener Raum […], das, was man als Stätte bezeichnet. Die Körper sind Existenz-Stätten, und es gibt keine Existenz ohne Stätte, ohne ‹Da›, ohne ein ‹Hier› […]. So und auf tausend andere Arten […] gibt der Körper der Existenz Statt« (Nancy 18).

Der französische Phänomenologe Jean-Luc Nancy beschreibt den Körper als ein von Ausdehnungskräften durchwaltetes Feld. Körper sind Existenz-Stätten, die der Füllung bedürfen, des Atems, der Luft. »Atem« bezeichnet die »vom Körper zur Aufrechterhaltung der Lebensvorgänge aufgenommene und wieder abgegebene Luft, [der] Hauch« (Pfeifer), ursprünglich auf den Wortstamm des altindischen Begriffs ātmāzurückzuführen, der mit Hauch, Seele, Selbst übersetzt wird.

Der Körper ist der Ort der Erfahrung: »Breathing in … breathing out!« Der topologischen Bewegung der Ausdehnung entspricht eine gleichwertige Intensität innerer Bewegung, eines Berührtwerdens, welches die Bewegung der »expérience«, der Erfahrung ist. Nancy verweist auf die Bedeutung des lateinischen experiri als eines »nach draußen Gehen[s]«, eines »Ausziehen[s] ins Abenteuer« (Nancy 143): »Zieh hinaus in das Land, das ich dir zeigen werde« (Gen 12,1). Ausgedehnt sein heißt, dass es ein Außen und deshalb Berührung gibt. Darauf gründet sich das Gefühl des Existierens. Ohne Ausdehnung, Öffnung und Berührung gäbe es kein Gefühl des Existierens. Die Ausdehnung, das Aus- Sich-Heraus-Gehen und Sich-Öffnen am Ort bedeutet die Exposition des Körpers, seiner Vulnerabilität und Endlichkeit (vgl. Busch 309).

Seele und Existenz sind an den Körper geknüpft, welcher notwendig auf In-spiration angewiesen ist. Beatmetwerden ist in der Genesis ein zentrale Erfahrung: Dem aus Erde geformten Menschen wird vom Schöpfer der Odem in die Nase geblasen (Gen 2,7). Mit der von außen kommenden Bewegung des Atems wird der Mensch zu einem lebendigen Wesen. Lebenshauch verhilft ihm zu Lebendigkeit und Selbst-Entfaltung.

»Ruach« — gespürte Atmosphäre(n)

Dies meint »Dimension der Tiefe«. Ein- und Ausatmen »verkörpern« eine Tiefenerfahrung. רוח rûaḥ ist eng verwandt mit ræwaḥ »Weite«, »Tiefe«, »Raum«; dieser Begriff wird verwendet, wenn jemand weit wird, erleichtert ist, aufatmet. Ruach ist das, was Raum schafft und in Bewegung setzt, aus der Enge in die Weite führt und so lebendig macht (vgl. Tengström 389). Dabei lässt sich Ruach selbst nicht definieren. Niemand weiß, woher sie kommt und wohin sie geht: »Der Wind weht, wo er will; du hörst wohl sein Brausen, weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht« (Joh 3,8). Man kann ihr Wirken nur beschreiben. Ruach muss nicht immer etwas Positives sein. Wie der Wind erschaffen und zerstören kann, kann die Ruach Jahwes Gutes und Schlechtes bewirken: »Sie alle warten auf dich, […] / öffnest du deine Hand, werden sie satt an Gutem. / Verbirgst du dein Gesicht, sind sie verstört; / nimmst du ihnen den Atem, so schwinden sie hin / und kehren zurück zum Staub der Erde. / Sendest du deinen Geist aus, so werden sie alle erschaffen« (Ps 104, 27a. 28b-30a).

Psalm 104 zeigt JHWH in Beziehung zu den von ihm erschaffenen Wesen, »die Liebe JHWHs sozusagen in actu, die das Leben aller Lebewesen garantiert« (Schüngel-Straumann 14). Der Bündnisgeist Jahwes erweist sich als ein Atembündnis, als ein langer, liebender Atem für seine Geschöpfe — offensichtlich bis heute. Dies ist der springende Punkt. In der existenziellen Konfrontation mit Atemnot und Tod habe ich mich in der Einfluss-Sphäre einer ebenso verborgen-bergenden Atemkraft erlebt —phänomenologisch gesprochen: in einem Gefühl, das Transzendenz zu spürbarer Anwesenheit bringt. Gespürte Atmosphären sind die Ursache für »Transzendenz«-Erleben, weil das Transzendente als eine Erfahrung von Präsenz fühlbar wird. Insofern ist der »Neuen Phänomenologie« von Hermann Schmitz Recht zu geben, wenn sie Gefühle nicht auf private, innere Zustände von Einzelnen reduzieren will, sondern als »räumlich ergossene, leiblich ergreifende Mächte« (Schmitz 79) begreift.

Heute entdecke ich darin für mich ein dramatisches Stück religiöser Gefühlsbildung, nämlich zu spüren, wie sich im Atembündnis meiner Freunde atmosphärisch ein Gottes-(JHWH-)Bewusstsein verkörpert, das meiner »Existenz Statt gegeben« hat und gibt.

Mein Krankenzimmer: »geheiligter Boden«

Zu diesem atmosphärischen Vermächtnis gehört: Mein Krankenzimmer auf der Intensivstation ist geheiligter Boden. »Komm nicht näher heran! […] Denn der Ort, wo du [liegst], ist heiliger Boden« (Ex 3,5). Diese — auch aus der Reflexion heraus — nicht multiplizierbare, nicht verallgemeinerbare Erfahrung des Außer-Ordentlichen wird gleichwohl Auswirkungen haben auf meine weitere religionspädagogische und katechetische Arbeit. Epiphanien des »Fremden« und »Außer-Ordentlichen« sind ja von jeher eine spezifische Herausforderung theologischen Arbeitens. Dies bedeutet, mich noch entschlossener um einen phänomenologischen Blick zu bemühen. Der Luftraum des Unsichtbar-Lebendigen dürfte nicht im Gestus der Behauptung, sondern eher in metaphorischen Überschüssen artikulierbar werden als einem fremden Anspruch, der weder in der Immanenz einer bestimmten Fachsprache, noch als übernatürliche Kundgabe zu identifizieren sein wird.

Wichtige Einsichten in die Interpretation hyperbolischer Erfahrungen verdanke ich Bernhard Waldenfels, der sich über viele Jahre mit »Überschussphänomenen« auseinandergesetzt hat. Hyperphänomene, sagt er, überquerten Schwellen des Fremden, ohne sie zu überwinden. Dazu bedürfe es einer »indirekten Weise des Redens, des Sehens und des Handelns, die Fremdes im Eigenen und Eigenes im Fremden aufscheinen« lasse (Waldenfels 412), eine kritische Hermeneutik also, insofern Theologie, jede Rede von Gott, eine kritische Grenze darstellt, an der die Rede vom Außer-Ordentlichen grundsätzlich zur Unterbrechung in einer je kontingenten Ordnung der Welt führt.

Eine solcherart kritische Hermeneutik würde dem Religiöswerden der Vernunft ebenso einen Riegel vorschieben wie dem Vernünftigwerden religiöser Rede. Sie würde einer Wahrnehmungslogik folgen, die sich vom Fremden stimulieren und provozieren ließe, statt es einzugemeinden und dingfest zu machen: Intensität statt Intentionalität. Sie würde das atmosphärisch Spürbare als Ort der Selbstbegegnung, als einen Begegnungsraum mit dem Göttlichen wahrnehmen: hell und dunkel, mutig und angstvoll, kräftig und schwach — als Ruach Gottes, »die allen das Leben, den Atem und alles gibt; keinem von uns ist sie fern. Denn in ihr leben wir, bewegen wir uns und sind wir« (vgl. Apg 17b. 27b-28a).

Literatur

Busch, Kathrin, Jean-Luc Nancy – Exposition und Berührung, in: Alloa, Emmanuel / Bedorf, Thomas / Grüny, Christian / Klass, Tobias N. (Hg.), Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts, Tübingen .2012

Nancy, Jean-Luc, Corpus. Übers. v. Nils Hoydas und Timo Obergöker, Zürich/Berlin 2007, 18.

Pfeifer, Wolfgang et al., Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von W. Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, https://www.dwds.de/wb/etymwb/ Odem (eingesehen am 08.08.2021).

Schmitz, Hermann, Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, Freiburg/München 42014.

Schüngel-Straumann, Helen, Art. Geist (AT), in: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (http:// http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/19184), erstellt 2009 (eingesehen am 08.08.2021).

Tengström, Sven, Art. ַרוּח, rûah, in: Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, VII (1993). Waldenfels, Bernhard, Hyperphänomene. Modi hyberbolischer Erfahrung, Berlin 2012, bes. 407-412.

Quellenhinweise:

Text: Ludger Verst, Luft(t)räume. Kleine Phänomenologie des Atmens. In: Katechetische Blätter, 146. Jg. , Heft 5/2021, 370-373.

Foto: Amirezza Jambi / unsplah.com

© 2021 Ludger Verst

RELIGION nach Jung

Anregungen aus der Analytischen Psychologie

| Von Ludger Verst |

„Im Anfang war der Traum“, unter dieser Überschrift haben wir Sie zum dreijährigen Bestehen unserer Gesellschaft in die Akademie des Bistums Limburg nach Frankfurt eingeladen. Träume faszinieren oder schrecken Menschen von jeher mit ihren oft rätselhaft anmutenden Bildern. Oft scheinen uns Träume unverständlich und unrealistisch. Manchmal stehen sie aber auch am Anfang von etwas Neuem, noch Ungewissem. 

Im Anfang war der Traum.

So ähnlich war das vor Jahren auch für mich, als ich mitten im Leben — ich hatte ja einiges schon erreicht —, nach etwas Neuem, nach Vertiefung suchte, nach neuen Herausforderungen, auch beruflich. Gelegentlich, dann häufiger, tauchten Bilder auf: Ich mit Menschen im Gespräch … in Räumen, in denen nur ein Tisch und zwei Stühle standen. Und wie glücklich ich schon mittags war, wenn ich gesprochen, wenn ich — mehr noch — zugehört hatte, die Zeit gar nicht merkte. Wie wunderbar das war. — Heute weiß ich: Diese Bilder, die am Tag mir kamen, Tagträume wohl, zeigten ein Stück Zukunft mir, gaben mir Mut, aufzubrechen. Und so geschah’s: Ich folgte den Bildern, die mir vor Augen waren. Ich machte mich auf den Weg. Heute weiß ich: Schul- und Krisenseelsorge, Telefonseelsorge, Pastoralpsychologie und Personzentrierte Beratung, all dies gäbe es in meinem Leben nicht ohne diesen Aufbruch. Und viele Menschen nicht: Weggefährten, Freundinnen und Freunde —, zum Beispiel die, die mit mir dieses noch zarte Pflänzchen C.G. Jung-Gesellschaft hier in Frankfurt aufgebaut haben und seit drei Jahren mit Leben erfüllen: Thilo Brandl, Elena Altheimer, Robert Harsieber, um nur einige aus dem Vorstand unserer Gesellschaft zu nennen.

Mit der Gründung der Frankfurter C.G. Jung-Gesellschaft im September 2018 sollte auf der Landkarte der C.G. Jung-Gesellschaften im deutschsprachigen Raum nicht nur eine 400 Kilometer breite Lücke zwischen Köln und Stuttgart geschlossen, sondern an einem Ort, der traditionell durch die Psychoanalyse Sigmund Freuds geprägt ist, auch eine längst überfällige, fachlich lohnenswerte Auseinandersetzung eröffnet werden. Ich glaube, dass uns dies bis hierher schon ganz gut gelungen ist und hoffentlich weiter gelingen wird. Neben der Einführung in Grundlagen der Tiefenpsychologie, insbesondere der „Analytischen“, kommen in unseren Vorträgen, Seminaren, Workshops und Lektürekursen vor allem Themenfelder zur Geltung, die therapeutisch, beraterisch oder seelsorglich Tätigen eine persönliche und berufspraktische Orientierung bieten. 

Wenn wir mal nicht — wie heute — im Haus am Dom anzutreffen sind, dann trifft man uns im Frankfurter Stadtteil Sachsenhausen, an der Grenze zu Oberrad, in den wunderschönen Räumen der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen. Unsere Gesellschaft hat das Glück, dort beheimatet zu sein — mit all den Vorteilen, die eine universitäre Einrichtung bietet —, freundschaftlich unterstützt vom Institut für Pastoralpsychologie und Spiritualität, an dem ich selbst Lehrbeauftragter bin und von dessen Leiter, Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Klaus Kießling, ich Sie heute besonders herzlich grüßen darf.

„Im Anfang war der Traum“: Die Analytische Psychologie C.G. Jungs vertritt die Ansicht, dass der Traum ein hervorragendes Mittel ist, um Zugang zu den unbewussten Bereichen unserer Persönlichkeit zu bekommen. Träume schöpfen nicht nur aus unserem persönlichen Erfahrungsschatz. Sie verbinden uns mit einem Wissen, das aus uralten Menschheitserfahrungen schöpft und uns vor allem aus Mythen und Märchen bekannt ist, aus den Symbolbildern der Religionen und auch aus der Kunst. Das ist ein zentraler Aspekt der Jung’schen Psychologie: Dieses alte Wissen lässt sich in uns persönlich auffinden. Die archetypische Grundierung dieses Wissens kann uns mit unbekannten Tiefen unseres Selbst in Berührung bringen, unter Umständen ganz neue innere Ressourcen eröffnen.1 Um diese archetypischen Ausdrucksformen, um die Existenztiefe solcher archetypischer Bilder geht es nachher vor allem im Vortrag von Konstantin Rößler. 

In meinem Beitrag möchte ich diesen zentralen Aspekt der Analytischen Psychologie in einem ersten Schritt auf seine praktische Relevanz für die Theologie hin beleuchten. Die Pastoralpsychologie, ein relativ junges Teilgebiet der Praktischen Theologie, versteht sich als Ort eines kritischen Dialogs mit Psychologie und Psychotherapie, um ein größeres Bewusstsein für eine therapeutische, eine heilende Seelsorge zu entwickeln. Deshalb fragt die Pastoralpsychologie, wie sich z.B. Krisen und Kränkungen von Menschen mit heilenden Antworten verknüpfen lassen, z.B. denen biblischer Geschichten, und wie in Symbolhandlungen, etwa einer Liturgie, Heilung vom Göttlichen her erfahren werden kann.

Das Archetypenkonzept C.G. Jungs

Hier liefern die Erkenntnisse der Psychologie C.G. Jungs, insbesondere das Archetypenkonzept, wertvolle Impulse. Archetypen sind nach Jungs Verständnis grundlegende Muster des Erlebens und Verhaltens, die stark affektiv aufgeladen sind und sich auf das Verhalten von Menschen unbewusst auswirken. Er ist davon überzeugt: Die Träume können unmöglich nur hervorgegangen sein aus neurotischen Deformationen, aus schuldbedingten Abwehrmaßnahmen, aus gesellschaftlich zeitbedingtem Druck, sondern da ist etwas buchstäblich Ewiges im Menschen, wenn man denn die riesigen Zeitkorridore der Evolution in diese Richtung so beschreiben will.2

Unterhalb des persönlichen Unbewussten mit seinen Wünschen, Trieben, Erlebnissen und Verdrängtem liegt Jung zufolge das überpersönliche, das kollektive Unbewusste. Und aus diesem, davon geht Jung aus, schöpfen alle Kulturen und Religionen ihre Mythen, Ur-Bilder und Symbole. 1912 verwendet Jung erstmals diesen Begriff „Urbilder“ in „Wandlungen und Symbole der Libido“ und entwickelt die These von den Ur-Bildern in der Seele des Menschen. Er versteht darunter objektive bildhafte Strukturen, Szenarien, Ur-Szenen, die sich im Laufe der Evolution seelisch eingeprägt haben — in einem überpersönlichen, generationen- und kulturenübergreifenden kollektiven Unbewussten. Er spricht diesen Ur-Bildern eine numinose Qualität zu. Er ist — anders als Sigmund Freud — davon überzeugt, dass sie universell, also überall auf der Welt zu allen Zeiten bei allen Menschen gleichermaßen vorhanden seien. 

Jungs Archetypenkonzept ist nicht leicht zu verstehen und in der Psychologie alles andere als unumstritten, wird doch eben dieses zentrale Definitionsmerkmal des Archetyps, seine universelle, menschheitsgeschichtliche Geltung, durchaus in Frage gestellt. Über dieses Thema kommt es jedenfalls auch zum Bruch der Freundschaft mit Freud. Jungs Behauptung, die Archetypen seien biologisch fundiert und würden auf biologischem Wege vererbt, erscheint aus Sicht heutiger Humangenetik in der Tat fragwürdig. Ich möchte hier nicht auf die umfänglichen Debatten zu dieser Frage eingehen, obwohl sich dies durchaus lohnen kann, was neuere Forschungsarbeiten zu diesem Thema, wie etwa von Christian Roesler, unterstreichen.3

Für unseren Argumentationszusammenhang ist wichtig, dass es Jung — der in den 1940er Jahren sein Konzept entscheidend überarbeitet — weniger um die Frage einer biologischen Fundierung als um eine neue kulturpsychologische Sicht des Archetyps geht. Jung macht klar: Das kollektive Unbewusste kommt zustande, weil grundlegende Erfahrungen der Menschheit seit Urzeiten nicht verloren gehen, sondern in millionenfacher Wiederholung als Erinnerungsspuren ihren Ausdruck finden in der Tiefe des Unbewussten. Der Archetyp an sich ist unanschaulich, eine Struktur — ohne Inhalt —, und das archetypische Bild, sein konkreter Ausdruck, nur subjektiv erfahrbar.4 

Die mythologische Bildsprache der Religion

Diese psychologische Sicht kennzeichnet fortan die Art und Weise, wie Jung sich mit mythologischen Stoffen, mit Märchen, Sagen und Legenden, mit Träumen und in der Folge eben auch mit Religion beschäftigt. Er behandelt die archetypischen Bilder als Kulturäußerungen, denen man sich nur über Interpretation nähern kann. Dies ist denn auch der springende Punkt für die so dringliche, weil not-wendige Zusammenarbeit von Analytischer Psychologie und Theologie, steht doch die Deutung mythologischer Bildsprache im Zentrum aller biblisch-exegetischen Anstrengungen. Tiefenpsychologische Schriftauslegung, wie sie im deutschsprachigen Raum vor allem durch Eugen Drewermann bekannt geworden ist, setzt bei den Bildern und Symbolen der biblischen Texte an, also an ihrer existenziellen Innenseite, nicht ihrer historischen Außenseite.5 

Die historisch-kritische Methode, über die Exegeten oft nur als einziger Brille verfügen, stellt zwar die weitgehende Ungeschichtlichkeit biblischer Texte unter Beweis — zweifellos ein wichtiges Ergebnis —, sie geht aber in fataler Weise am eigentlichen Wesen dieser Texte, ihrer mythologischen Bildsprache, vorbei. Wie peinlich, wie naiv oft heute noch biblische Texte gelesen und interpretiert werden, also ob es hier vorwiegend um historische Berichte ginge! Eine tiefenpsychologische Entschlüsselung täte not, entstammen biblische Symbolwelten doch weithin eben jener traumnahen mythischen Sprache, die aus dem kollektiven Unbewussten kommt. C.G. Jung: „Ein Symbol (…) erklärt nicht, sondern weist über sich selbst hinaus auf einen noch jenseitigen, nicht fassbaren, dunkel geahnten Sinn, der in keinem Worte unserer derzeitigen Sprache sich genügend ausdrücken könnte.“6 

Davor aber haben Theologen und erst recht die Kirche Angst. Das Christentum hatte bereits in seinen Anfängen mit dem erfolgreichen Kampf gegen den heidnischen Mythos eine innere Einstellung angenommen, die im Grunde nur die Kräfte des Bewusstseins, also Wille und Verstand, und letzthin nur Tugendhaftgkeit gelten ließ. Die triebnahen Kräfte der menschlichen Psyche, denen die Mythen der Völker entstammen — Traum, Fantasie, Intuition, Gefühl — wurden demgegenüber als ungöttlich und gefährlich betrachtet. Und indem dieser innere psychische Bereich ängstlich gemieden wurde, galt als „wirklich“ vor allem die äußere, dem Bewusstsein zugängliche Realität. Nur in ihr konnte und sollte Gott dem Menschen erfahrbar sein.

Kein Wunder, dass dieser Ansatz theologisch unausweichlich in ein Dilemma führen musste und spätestens mit der Aufklärung Glaube und Verstand in einen unauflösbaren Konflikt gerieten. Denn jetzt wurde nicht mehr nur die innere, sondern auch noch die äußere Realität als Erscheinungsort Gottes in Frage gestellt. Gott konnte, mit Kant gesprochen, nur noch als Postulat eines moralischen Willens akzeptiert werden. Übrig blieb eine aufgeklärte Vernunft, die in prinzipiellem Widerspruch zu allem Irrationalen, Unbewussten, Unbeweisbaren, zu allem nicht sinnlich Erfahrbaren steht und daher jeder Art von „Mythos“ den Kampf ansagen musste. Übrig blieb ein Wille, der nur noch formal und inhaltslos ins Leere griff, eine dämonisierte und verschreckte Psyche, die sich bis heute vergeblich aus den Fesseln ihrer mythenfeindlichen Unterdrückung zu befreien versucht. Es ist daher der Theologie und insgesamt der Pastoral vorzuhalten, dass sie weithin seelenlos und gefühllos geworden sind für die wirklichen Fragen der Menschen und Gott oft nur noch in toten Begriffen, in einer geschmacklos gewordenen Sprache dogmatischer Vernunft verwalten — als „eine Art Totgott“, wie ihn der kleine Carl Gustav Jung offenbar schon als Kind im väterlichen Pfarrhaus erlebt hat. 

Analytische Psychologie und Seelsorge

Von der Analytischen Psychologie könnten Theologie und Kirche lernen, ihren eigenen Wirklichkeitsbegriff psychologisch zu vertiefen. Beide müssten begreifen, dass ihnen die eigene Sprache abhanden kommt, wenn sie die biblische Wahrheit auf satzhafte Informationen verkürzen und nicht aus den Gesetzen der jeweiligen sprachlichen Form erschließen: also ein Märchen als Märchen, einen Traum als Traum erfassen, was in einer Welt, die sich ihrer traumlosen technischen Machbarkeiten rühmt, geradezu heilsam sein könnte. Wie sollen Menschen in eine existenzielle Gleichzeitigkeit mit biblischen Texten gelangen, wenn deren Bildsprache gar nicht in ihrer symbolhaften Dimension erfasst wird?

Mit den Werkzeugen der tiefenpsychologischen Traumdeutung ließen sich archetypisch beeinflusste Ausdrucksformen begreifbar machen als Bilder für den inneren Weg des Menschen, der beschritten werden muss, um in das „Gelobte Land“, das heißt, zu sich selbst, zu menschlicher und mitmenschlicher Erfüllung zu gelangen. Gerade die Selbstbegegnung auf der Ebene der Archetypen könnte spirituell oder religiös Suchenden eine Annäherung an die historische Figur des Nazareners, dem Christus der Verkündigung, eröffnen, weil sie keiner Sammlung von Dogmen und Verhaltensregeln zu folgen hätten, sondern einzig der Spur einer auch in ihnen selbst zu lichtenden Wahrheit. 

Ich will nur ein Beispiel nennen: die so genannten ICH BIN-Worte Jesu aus dem Johannes-Evangelium: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6) . — Diese Selbstaussage weist auf ein messianisches Bewusstsein hin, das nicht nur einem einzigen, sondern jedem zugesprochen ist, der den Weg der Menschwerdung mit anderen geht. Und wer diesen Weg geht, hat Anteil an dem einen, alles umfassenden ICH BIN, wie er sich — (wo?) — in der existenziellen Situation einer Wüste (!) dem Mose als eben dieser: als JHWH, als „ICH BIN DA, der ich da sein werde“ — vorstellt und einprägt.

Der Christus des Johannesevangeliums bestätigt diese Erfahrung: nicht ich habe —, ich bin der Weg, ich bin die Wahrheit, ich bin das Leben — und er offenbart gerade darin ein göttliches Bewusstsein: Aus diesem einzigartigen, im kollektiven Gedächtnis ganzer Völker gründenden — dort aber eben auch verborgenen — Bewusstsein heraus könnten so viele — ob gläubig oder nicht — ihr eigenes ICH BIN entdecken als eine heilsam aufrichtende göttliche Kraft. Dies gilt für archetypische Symbolfiguren generell: den Guten Vater, die Gute Mutter, den Alten Weisen, vor allem für Bilder aus dem Archetyp des Helden und der Heldin.

Die Sensibilisierung für archetypische Figuren, für biblische Symbolwelten und deren Übersetzung in den zeitgenössischen Erlebnishorizont ist eine der unerlässlichen, eine der wohl dringendsten kulturhermeneutischen Herausforderungen heutiger Theologie —, nicht um die Theologie als solche zu verabschieden, sondern um ihr allererst wieder eine Zuständigkeit in den Fragen zurückzugeben, die im Leben von Menschen im Ganzen entscheidend sind. Wenn die Theologie — und in praktischer Konsequenz die Kirche — dem menschlichen Bedürfnis nach Tröstung und Heilung wirklich nahekommen will, dann braucht sie die Deutungs- und Lesehilfe der Tiefenpsychologie — und beide, Theologie und Kirche, sollten sich ihrer zu bedienen wissen.7

Es braucht stärker als bisher eine sich aus der Analytischen Psychologie inspirieren lassende kirchliche Praxis. Denn wie immer man Religion oder Konfession im gesellschaftlich bedingten Wechsel ihrer Erscheinungsformen definieren mag: Unzweifelhaft wird Religion — und Seelsorge erst recht — daran erkennbar sein müssen, dass sie sich in möglichst vielen Bewährungssituationen an Ausdrucksformen seelischen Erlebens anzuschließen versteht, dass sie die drängenden existenziellen Fragen aus einer dogmatischen Engführung heraushält und den Menschen in seinem ganzen seelischen Erleben anzusprechen versteht: in seinen augenblicklichen und seinen immerwährenden Fragen nach Herkunft und Ziel, nach Geburt und Tod, Schuld und Vergebung, Vertrauen und Angst. Die nachlassende Intensität religiöser Erfahrung hängt wohl nicht zuletzt auch mit einer weitgehenden Verarmung des Traumerlebens in der christlichen Tradition selbst zusammen. Dass Traum- und Symboldeutung heute fast ausschließlich im Zuständigkeitsbereich therapeutischer und nicht seelsorglicher Praxis liegen, zeigt sich im Bereich christlicher Beicht- und Bußpraxis besonders deutlich. Gerade hier könnte die Symbolsprache von Traumbildern spürbar werden lassen, dass in der menschlichen Seele die notwendigen energetischen Bilder bereitliegen, um bevorstehende Entwicklungsaufgaben zu bewältigen.8

Pastoralpsychologie nach Jung

Lassen Sie mich zum Schluss nur einige, wenige Aufgaben nennen, die einer Religion nach Jung, mehr noch einer Pastoralpsychologie nach Jung dringend zukämen:

  • Religion stellt die Frage nach dem Heiligen, dem „fascinosum et tremendum“ (R. Otto). Und hier gilt: Das Heilige ist ein Element in der Struktur, nicht eine Stufe in der Geschichte des Bewusstseins. Es kommt darauf an, dieses Heilige und Ewig-Gültige hinter den Variationen und Modifikationen einer jeweiligen Zeit, das sich gerade in Träumen ausspricht, als eine allgemein zugängliche psychische Ressource zu erkennen und Ratsuchenden in Therapie, Beratung und Seelsorge erfahrbar zu machen.
  • Trauminhalte können als Symbole für unbewusste subjektive Inhalte aufgefasst werden.9 Im Unterschied zu Freud besteht Jung darauf, Traumsymbole nicht kausal-reduktiv als Zeichen an sich bekannter Inhalte, sondern als Ausdruck transzendenter, mittels Bewusstsein niemals vollständig aussagbarer Inhalte zu verstehen. Diese dem Finalitätskonzept Jungs zuzurechnende Methode versucht in prospektiver Absicht den Sinn archetypischer Bilder zu eruieren. Hier liegt ein wesentlicher therapeutischer Vorteil, gilt es doch den heilenden Wert dieser Bilder ohne Spaltung in Bewusstes und Unbewusstes für den je eigenen Individuationsweg als Richtungs-, als Orientierungsgrößen zu nutzen.
  • Archetypische Traumbilder erfüllen eine wichtige kompensatorische Funktion. Die Autonomie des Unbewussten führt im Traum oft nicht nur in grellen Gegensatz zu den Absichten des Bewusstseins, sondern verbindet mit dieser „Gegeneinanderhaltung“ einen kompensatorischen Effekt, wodurch ein „Ausgleich“ oder eine „Berichtigung“10 entsteht, zumindest entstehen könnte. Die Kirche benötigt als ganze — das zeigt katholischerseits allein der skandalöse Umgang mit der Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs — dringend eine Auseinandersetzung mit den Verstrickungen klerikaler Trieb- bzw. Machtverdrängung11, um sich der dahinterliegenden Ursachen ihrer moralischen Doppelbödigkeiten überhaupt bewusst zu werden. An solchen Verstrickungen zeigt sich einmal mehr, dass moralische Normen selbst keinen absoluten Wert beanspruchen können und dass es gerade das Sich-Bewusstmachen verdrängter psychischer Inhalte ist, das zur Gesundung führt. 
  • Eine Pastoralpsychologie nach Jung stellt dem Streben nach tugendhafter Vollkommenheit das Prinzip der Vollständigkeit entgegen: „Das Individuum mag sich zwar um Vollkommenheit mühen, muss aber zugunsten seiner Vollständigkeit sozusagen das Gegenteil seiner Absicht erleiden.“12 Dieses Bemühen um Ganzheit, um die Wiederherstellung ursprünglicher psychischer Einheit nennt Jung coniunctio oppositorum, die „Synthese der Gegensätze“ 13. Diese Grundeinsicht Analytischer Psychologie steht indes in fataler Weise der Grundannahme christlicher Erbsündenlehre gegenüber, der zufolge der Mensch durch den Sündenfall in seinem Wesen böse sei und nur durch die Gnadenmittel einer äußeren Macht zum Guten geführt, sprich: „erlöst“ werden könne (vgl. Röm 5,12)14. Wenn die Kirche sich öffnen würde für eine Tiefung im Horizont der Jungschen Vervollständigungstendenz, könnte sie die Endlosschleifen solcher dogmatischer Engführungen aufbrechen. Sie müsste die Wiederholungszwänge ihrer eigenen Traumatisierung, ihre Selbstimmunisierung, die Heiligsprechung ihrer eigenen Strukturen nicht länger endlos-unbewusst reproduzieren. 

So dürfte die vordringlichste Aufgabe einer Pastoralpsychologie nach Jung gerade darin bestehen, den Entwicklungs- und Wandlungsweg der Kirche tiefenpsychologisch mit zu begleiten. Sie wird die therapeutische Dimension ihrer Theologie mit der Entwicklung und Förderung spiritueller Grundhaltungen und Kompetenzen der ihr Anvertrauten zu verbinden suchen. Die Auseinandersetzung mit dem Bedrückend-Dunklen wie dem Befreiend-Hellen eines Entwicklungsweges lohnt sich. Denn das, was sich zeigt, weist über das Gezeigte weit hinaus — in die Göttlichkeit jedes Menschen.

Anmerkungen:

1 Vgl. Dieter Schnocks: Was unsere Träume sagen wollen. Botschaften aus dem Raum der Seele. Freiburg. Herder 2015, 94.

2 Vgl. Thomas Kroll: Gott als Archetypus. Carl Gustav Jungs Beziehung zur Religion. In: Deutschlandfunk Kultur vom 11.06.2011 — https://www.deutschlandfunkkultur.de/gott-als-archetypus.1278.de.html?dram:article_id=192777 (letzter Zugriff am 31.07.2021).

3 Roesler findet in den Neurowissenschaften, in der entwicklungspsychologischen und anthropologischen Forschung eine Reihe empirischer Belege dafür, dass psychologische Archetypen tatsächlich existieren, wenn auch — auf dem Hintergrund der modernen Humangenetik  — nicht in Form einer Vererbung komplexer symbolischer Muster. Vgl. Christian Roesler. Analytische Psychologie heute. Der aktuelle Stand der Forschung zur Psychologie C.G. Jungs. Freiburg: Karger 2010, 40-81. — Vgl. auch C. Roesler: Das Archetypenkonzept C.G. Jungs im Lichte aktueller Erkenntnisse aus Neurowissenschaften, Humangenetik und Kulturpsychologie, in: Recherches germaniques, Carl Gustav Jung (1875-1961), Pour une réévaluation de l’œuvre / Ein neuer Zugang zum Gesamtwerk. HS 9 | 2014, 163-189 — https://doi.org/10.4000/rg.1749 (letzter Zugriff am 31.07.2021).

4 Beeinflusst von der Philosophie Kants geht auch Jungs Psychologie davon aus, dass Zeit, Raum und Kausalität als apriorische Formen der Apperzeption jeglicher menschlicher Wahrnehmung vorausliegen.

5 Als nach wie vor unübertroffen darf Eugen Drewermanns zweibändiges Standardwerk zu Tiefenpsychologie und Exegese gelten, für unseren Zusammenhang insbesondere Band 1: Traum, Mythos, Märchen, Sage und Legende. Düsseldorf/Zürich: Walter 62001, 101-162: Der Traum als Grundlage archetypischer Erzählungen — „Nicht vom Wort und von der Geschichte, sondern vom Traum, vom Bild ist auszugehen“ (153).

6 C.G. Jung: Geist und Leben. In: Ders.: Die Dynamik des Unbewussten. Gesammelte Werke; Bd. 8. Olten: Walter 1971, S. 381; § 644. 

7 Darauf verweist auch Isidor Baumgartner in: Pastoralpsychologie. Einführung in die Praxis heilender Seelsorge, Düsseldorf: Patmos 21997, 578-584: Tiefenpsychologische Schriftauslegung — ein Beispiel symbolisch-narrativer Theologie.

8 Vgl. Schnocks, 131.

9 Vgl. C.G. Jung: Allgemeine Gesichtspunkte zur Psychologie des Traumes, in: Ders.: Die Dynamik des Unbewussten. Gesammelte Werke, Bd. 8, Olten/Freiburg i. Br.: Walter 1971, 269-318. — „Der Traum ist eine spontane Selbstdarstellung der aktuellen Lage des Unbewussten in symbolischer Ausdrucksform“ (ebd., 300).

10 Vgl. Jung, GW 8, 327ff.

11 In diesem Zusammenhang richtet auch Klaus Kießling „drängende Fragen an Kirche und Theologie“, u.a. dadurch, dass er die „Frage nach dem Unbewussten einer Institution“ stellt, einer Kirche, die sich den unbewussten Motiven ihres Machtgebrauchs dringend stellen müsse, wenn sie sich nicht als geschlossenes System „blickdicht abschirmen“ wolle. Vgl. Klaus Kießling: Geistlicher und sexueller Machtmissbrauch in der katholischen Kirche. Würzburg: Echter 2021, bes. 49-52.

12 C.G. Jung: Aion, Beiträge zur Symbolik des Selbst, GW 9/II, Olten/Freiburg i. Br.: Walter, 61985, 10.

13 Ebd., 78f.

14 In den Evangelien gibt es weder Zitate im Sinne einer so genannten „ipsissima vox Iesu“, noch Hinweise der Autoren auf einen Sündenfall Adams, dessen Fehler durch Jesus rückgängig zu machen gewesen wäre. Paulus aber entwickelt eine „Theologie der Sünde“ und eine damit zusammenhängende Anthropologie, die zur Grundlage der späteren Erbsündenlehre wurde. — Michael Pflaum sieht im negativen Menschenbild der Augustinischen Erbsündenlehre sogar den Nährboden für die Machtstruktur des Klerikalen, in dem der Priester manipulativ und gewaltsam wirken könne, ohne entdeckt zu werden. Vgl. Michael Pflaum: Für eine trauma-existentiale Theologie. Missbrauch und Kirche mit Traumatherapien betrachtet. BoD 2021.  

Vortrag anlässlich des dreijährigen Bestehens der C.G. Jung-Gesellschaft Frankfurt a.M. am 4. September 2021 in der Akademie Rabanus Maurus in Frankfurt

© 2021 Ludger Verst

„Erwin Olaf. Unheimlich schön“

| Von Ludger Verst |

Vor zwei Tagen war ich in einer Ausstellung in der Münchner Kunsthalle. Ausgewählte Fotografien, Videos, Skulpturen und Multimediainstallationen … von Erwin Olaf: Noch nie gesehen, nie gehört. Der Niederländer soll einer der Großen unter den Fotokünstlern der Gegenwart sein. Gleich am Eingang zur Ausstellung fällt mir sein Geburtsdatum auf: Erwin Olaf ist genau einen Tag älter als ich.

Die plakative, der Film- und Werbeindustrie entlehnte Werkästhetik ließe sich ruhigen Schrittes passieren, wenn nicht hinter der Oberfläche überraschend deutlich gesellschaftskritische Fragen zum Vorschein kämen. Es sind tabubesetzte Themen — Gender, Ethno, Sexualität —, die hervorstechen.

Dann stehe ich vor einem Triptychon. 

Erwin Olaf: I Wish, I Am, I Will Be (2009) 
Foto: Ludger Verst

Erwin Olaf selbst — in leuchtender Dreifaltigkeit. Im Laufe seines Schaffens hat sich der Künstler immer wieder selbst fotografiert. Seine Bildnisse dienen ihm „als Mittel zur Selbstbefragung“, verrät die Infotafel neben dem Bild. So auch das Triptychon I Wish, I Am, I Will Be (Ich wünschte, Ich bin, Ich werde sein). 2009 entstand zunächst das mittlere Porträt I Am anlässlich seines 50. Geburtstags. Später hat Olaf es um zwei Darstellungen ergänzt. Sie werfen einen Blick zurück in eine fiktive Vergangenheit und einen Blick voraus in eine fiktive Zukunft. In I Will Be setzt sich Olaf, bei dem schon 1996 ein erblich bedingtes Lungenemphysem diagnostiziert wurde, mit der Angst auseinander, eines Tages nicht mehr ohne Hilfe atmen zu können. I Wish ist ein digital bearbeiteter Gegenentwurf dazu, auf dem sich der Künstler einen jungen und starken Körper verleiht.

Selbstbildnisse in Serie ermöglichen Olaf die Dokumentation seiner physischen und psychischen Verfassung bei der Entstehung seiner Projekte. Das Audio https://specials.kunsthalle-muc.de/erwinolaf-audio/index_de.html#p16 liefert dazu einige interessante Auskünfte. Selbstporträts sind für Erwin Olaf Bilder von Seelenzuständen. Selbstporträts sollten etwas vom Seelenbild des Porträtierten zeigen, „etwas, das Dich beschäftigt oder zeigt, wie Du bist und was Du bist! Eine Nacktheit, ohne nackt zu sein“, vertraute Olaf schon 2011 dem fotoMAGAZIN in einem Interview an: „Wenn man Menschen fotografiert, schaut die Kamera manchmal in die Seele. Sie sieht Unsicherheit, Zweifel und auch den Narzissmus. Sie sieht Komplimente, die man gibt. Manchmal ist ein Selbstporträt die Folge von etwas, das ich Jahre davor fotografiert habe. Und wenn ich Glück habe, ist es der Beginn von etwas Neuem.“ 

Selbstporträts macht der niederländische Künstler schon seit 1985. Im Blick auf seine unheilbare Krankheit haben sie auch eine therapeutische Funktion wie in I Wish, I Am, I Will Be. Das erste Bild („Ich wünschte“) zeigt Olaf photoshop-bearbeitet als durchtrainierten, jungen Mann, das zweite („Ich bin“) aktuell, ohne jede Retusche und das dritte („Ich werde sein“) mit Schläuchen einer Nasenbrille und deutlich älter. Wo früher ein silbernes Kettchen glänzte, wird in Zukunft — möglicherweise — ein Beatmungsgerät zu sehen sein. Dieses Werk habe wesentlich dazu beigetragen, seine unheilbare Krankheit akzeptieren zu lernen, sagt er.

Erwin Olaf macht mittlerweile immer häufiger Bilder von Seelenzuständen. „Ein Künstler sollte etwas erzählen über seinen Seelenzustand. Sonst hat es keinen Zweck, etwas zu machen. Wir warten nicht auf Kitsch und hohle Bilder. Man sollte etwas von sich geben, das einen beschäftigt.“

Mich beschäftigt das Triptychon von Erwin Olaf, seitdem ich es gesehen habe. Vielleicht weil ich mich im Zuge von Corona selbst mit einer bedrohlichen Lungenerkrankung auseinandersetzen musste und mein Schreiben ebenso als Therapeutikum verstehe. Vielleicht rückt gerade dies mich in eine emotionale Nähe zum Werk — , ist sein Künstler mir doch um genau einen Tag Ein- und Ausatmen voraus.

Die Ausstellung „Erwin Olaf. Unheimlich schön“ in der Kunsthalle München ist noch zu sehen bis zum 26. September 2021.

© 2021 Ludger Verst

Was Jung mit Platon verbindet

| Von Robert Harsieber |

„Alle abendländische Philosophie ist als ‚Fußnote zu Platon‘ zu verstehen.“ Diese Auffassung stammt vom englischen Philosophen Alfred North Whitehead. Von C.G. Jung, der zumindest in der Öffentlichkeit oft im Schatten Sigmund Freuds steht, könnte man dasselbe sagen: Alle Psychologie und Psychotherapie — und nicht nur die — können als Fußnoten zu Jungs Werk gelesen werden.

In der antiken Philosophie hob sich das Denken aus den Nebeln des Mythos. Was ist Mythos und was ist Logos? Mythos ist eine Erzählung des Ganzen, aber ohne die rationale Klarheit des Denkens. Heraklit nannte man noch „den Dunklen“. In Platon hat sich das klare Denken gefunden, aber die Ganzheit war noch präsent. Sein Schüler Aristoteles wandte sich bereits den Details zu, ein Weg, der zur Spezialisierung der Wissenschaften führte, aber auch dazu, das Ganze aus den Augen zu verlieren.

Man könnte es so sehen, dass alle Philosophen nach Platon Detailprobleme, Aspekte oder bestimmte Perspektiven der Wirklichkeit im Auge hatten, die alle im Bild des Ganzen bei Platon enthalten sind. Der „ganze“ Platon ist schwer fassbar. Das kann man verdeutlichen an seinem Höhlengleichnis, das vielleicht das Konzentrat seiner Philosophie in einem Bild ist. Platon wird später und noch heute als Dualist gesehen, so als gäbe es für ihn nur die Schattenwelt an der Höhlenwand und die Ideenwelt außerhalb der Höhle. Dass es darüber hinaus einiges dazwischen gibt – das Feuer, die von Wesen getragenen Gegenstände, die Stufen hinauf aus der Höhle – kommt heute gar nicht mehr in den Bick. Das ganze Bild ist dem fragmentierenden Denken nicht mehr zugänglich. 

Von der Erfahrung zum Denken

Jegliche Philosophie ließe sich in der Philosophie Platons und im Speziellen im Höhlengleichnis „verorten“. Und vielleicht nicht nur die Philosophien, sondern auch die gesamte europäische Ideengeschichte – inklusive Psychologie. Denn alles, was nach der Beschreibung der Situation der Höhle passiert an Dynamik, ist Erfahrung des Menschen, und damit ein Geschehen der Psyche. Die Energie, die notwendig ist, um sich von den Fesseln loszumachen, die (inneren) Verletzungen, die möglicherweise dabei entstehen, das Feuer, quasi als inneres Licht, das erst die Schatten sichtbar macht, die Stufen, die zu gehen sind, das Geblendet-Sein am Höhlenausgang, die Unendlichkeit, aus der Sonne und Gestirne leuchten, die allererst Orientierung erlauben und den Blick auf das Ganze ermöglichen: all das ist nicht nur begrifflich (philosophisch) zu sehen, sondern auch als (psychische) Erfahrung. Platon fasst die Menschheitsfragen in Begriffe, ohne das Ganze verloren zu haben.

Es geht um die Erfahrung (des Ganzen) und den Weg zum (konkreten, wissenschaftlichen) Denken, den Platon eröffnet hat. Wenn man sich die Biographie C.G. Jungs anschaut, dann ist er genau diesen Weg gegangen. Schon in seiner Kindheit, in seiner Bewusstwerdung und Ich-Werdung, kam es immer wieder zu Einbrüchen des Unendlichen ins Endliche. Was Jung in seiner Biographie als Persönlichkeit Nr. 1 und Nr. 2 bezeichnet, ist noch nicht klar, noch nicht geschieden, bis es sich dann schließlich als Ich und Selbst kristallisiert.

Jung hat bereits einen (bewusst-unbewussten) Erfahrungsschatz über das/sein Menschsein, als er seine Stelle als Psychiater am Burghölzli antritt, im Bewusstsein, dass er keine Ahnung hat, was Psychiatrie ist. Genauso wenig wie seine Kollegen, die sich das aber nicht eingestehen (können), und leichtfertig mit ihren nichtssagenden Diagnosen umgehen. Jung steht hier am entscheidenden Wendepunkt der Psychiatrie, an dem das „Faktendenken“ in ein Fragen nach der persönlichen Geschichte der Patienten mündet. Dies war zunächst ein einsamer Weg Jungs – und ist es letztlich auch geblieben. 

Jung ist quasi der Anti-Platon. Hatte Platon den Weg eröffnet, aus dem Bild des Ganzen in das fragmentierende Denken der (Natur-)Wissenschaft, so hat Jung den Weg eröffnet zurück zur Ganzheit, vom Begriff zum Mythos, vom Teil zum Ganzen, vom Teilchendenken zum Wellen-/Beziehungsdenken (in der Sprache der Physik). Seine Psychologie füllt sozusagen wieder das ganze Höhlengleichnis aus, nicht nur einen Aspekt oder einen bestimmten Bereich.

Psychologie und Physik

Damit sind wir unversehens in der Terminologie der Physik, und das nicht von ungefähr. Die Physik am Anfang des 20. Jahrhunderts ist die komplementäre Entwicklung zur Psychologie, was hier nur angedeutet werden kann. Die klassische Physik – ermöglicht durch die Forderung Galileis („Alles, was messbar ist, messen“) und die Unterscheidung (nicht Trennung!) von res extensa und res cogitans des Decartes – mündete in der freudigen Erwartung Ende des 19. Jahrhunderts, dass jetzt nur noch die kleinsten „Bausteine“ des Universums gefunden werden müssten, um alles (auch das Leben) zu erklären. 

Dieser Auffassung wurde Anfang des 20. Jahrhunderts radikal der Boden entzogen: Es gibt so etwas wie „kleinste Bausteine“ gar nicht! Die Welt der Elementar-„Teilchen“ hat nichts zu tun mit dem, was man sich bisher unter Materie vorgestellt hat. Photonen und Elementarteilchen sind gar keine Teilchen, sondern Quantenphänomene, die je nach Experiment sich entweder als Teilchen oder Wellen zeigen. Obwohl es sich um eine Entität handelt, können wir nicht beide Aspekte zugleich sehen.

Die moderne Physik hat entdeckt, dass das Teilchenbild nicht ausreicht, die Wirklichkeit zu beschreiben, es muss durch das Wellenbild ergänzt werden. C.G. Jung hat der Psychologie das ihr eigene Wellenbild erschlossen. Statt einseitiger Diagnosen und Definitionen wandte er sich der Biografie der Patienten, der Geschichte hinter den Diagnosen zu. Nicht Begriffe, sondern Erzählungen stehen am Anfang der Therapie und ermöglichen diese erst. Erzählungen, Beziehung, Biografisches, all das ist „wellenartig“ und kann mit einem definierenden/abgrenzenden, begrifflichen Teilchendenken nicht erfasst werden. Um Menschen wissenschaftlich zu beschreiben, braucht es beides.

Zurück zum Mythos?

Jungs Weg führt damit – schon in seiner Kindheit – zurück zu einem hintergründigen Ganzen, zu etwas, das dunkel hinter dem Bewusstsein steht, von dem dieses nur ein „Teil“ ist. Er führt zur Anerkennung von etwas Größerem, Unbewusstem und Unnennbarem, das in die vordergründige Realität jederzeit einbrechen kann. Jung war offenbar ein Naturtalent, was dieses Zulassen und Offensein für eine umfassendere Wirklichkeit betrifft. Man kann es als Mythos des Ganzen bezeichnen. Jungs Weg führt zurück zu den kollektiven Mythen der Menschheit.

© 2021 Robert Harsieber

„Zeige deine Wunde!“

Gratulation eines Geretteten

| Von Ludger Verst |

Der 100. Geburtstag von JOSEPH BEUYS am 12. Mai ist mir in diesem Jahr willkommener Anlass zu persönlicher GRATULATION — und EMOTION. Das hat mit einer besonderen Erfahrung und einem bestimmten Werk des Künstlers zu tun: mit Beuys’ Installation „Zeige deine Wunde“ aus dem Jahr 1976.

Im Münchener Lenbachhaus, wo das Environment heute seinen Platz hat, treffe ich auf einen großen, klinisch anmutenden Raum: ein kühles, geradezu verlassen wirkendes Laboratorium, dem Tod mehr als dem Leben zugewandt: zwei Leichenbahren, darüber zwei lampenartige Kästen aus verzinktem Eisenblech mit Glasscheiben, die von innen mit Fett bestrichen sind. Auch zwei schwarze Schultafeln sind zu sehen, von Beuys mit Kreide kindlich beschriftet, auf denen zeige deine Wunde steht — und noch zwei Schäleisen und zwei Forken, von roten Tuchfetzen umbunden. Eine merkwürdig fremde, beinahe verstörende Atmosphäre, die mich ratlos zurücklässt.

Und wie so oft bei Beuys: Im Gestell, im Material schon liegt eine Botschaft. Schwarzgrau die Geräte, rot die Tücher. Der Ernst des Todes und das Verspielte der Schrift. Polaritäten. In der Kälte der Umgebung ein Hauch von Wärme.

„Es gibt eine unsichtbare und es gibt eine sichtbare Welt. Zur unsichtbaren Welt gehören die nicht wahrnehmbaren Kraftzusammenhänge und Energieabläufe; gehört auch das, was man gewöhnlich das Innere des Menschen nennt. Der Mensch ist eine Bodenstation für etwas viel Größeres, und Kunstwerke sind Erdstationen, die etwas aus sich entlassen, was metaphysischen, spirituellen Charakter hat.“ (1)

Beuys’ Installation hat einen solch metaphysischen Charakter. Sie gilt vielen inzwischen als Symbol für Krankheit und Schwäche, für Alter und Sterblichkeit. Beuys selbst verstand sie als einen therapeutischen Raum, als „Krankenzimmer“, in dem er dem Betrachter seine eigene Wunde offenbaren und dabei gleichzeitig Heilung erfahren konnte.

Mein Krankenzimmer — ein therapeutischer Raum

Ich erlebe dies im Rückblick auf meine schwere Corona-Erkrankung im letzten Jahr ganz ähnlich. Mein Krankenzimmer auf der Intensivstation erscheint mir im Nachhinein als ein ebenso therapeutischer wie heilsamer Raum, als ein Konfrontationsraum mit dem Göttlichen: hell und dunkel, angstvoll und mutig, kraftvoll und schwach.

Diesem Raum entspringt auch jetzt noch eine Kraft, die — mehr als zuvor — mir erlaubt, über Verletzungen und Narben zu sprechen und nicht nur über Siege. Eine Kraft, die (m)ein Heilwerden in Gang setzt, ja, überhaupt erst möglich macht. Als etwas, das im Vorfeld von Erkenntnis liegt: vor-verbal, atmosphärisch, intuitiv. — Erst langsam, wie im Beuys-Raum im Lenbachhaus finden Verwundung und Verwunderung eine Sprache, die vorsichtig und tastend und dann erst klar und deutlich wird.

Zeige deine Wunde! — Im Durchgang durch meine eigene Krankheits- und Heilungsgeschichte ist mir mit Beuys klar geworden, dass Geheiltwerden eine geistliche Dimension hat, die im Zeigen und nicht im Unsichtbarmachen von Verwundungen liegt. Beuys sieht den Menschen grundsätzlich als ein verletzliches Wesen, das genauso wie die Gesellschaft der Heilung bedarf. In seiner Kunst liegt eine Kraft, die den Blick auf das Kleine und Unscheinbare, das Unerhörte und Übersehene richtet und zugleich einen heilsamen Umgang mit ihm erschließt. Mit dieser Kunst hat sich Joseph Beuys tief in mein Leben eingeschrieben. Ich — und viele andere — werden ihm ein Leben lang dankbar sein.

(1) Joseph Beuys und die Religion: „Auferstehen muss der Mensch schon selbst“ — https://www.deutschlandfunk.de/joseph-beuys-und-die-religion-auferstehen-muss-der-mensch.886.de.html?dram:article_id=466086 (11.05.2021)

© 2021 Ludger Verst