Anregungen aus der Analytischen Psychologie
| Von Ludger Verst |
„Im Anfang war der Traum“, unter dieser Überschrift haben wir Sie zum dreijährigen Bestehen unserer Gesellschaft in die Akademie des Bistums Limburg nach Frankfurt eingeladen. Träume faszinieren oder schrecken Menschen von jeher mit ihren oft rätselhaft anmutenden Bildern. Oft scheinen uns Träume unverständlich und unrealistisch. Manchmal stehen sie aber auch am Anfang von etwas Neuem, noch Ungewissem.
„Im Anfang war der Traum.“
So ähnlich war das vor Jahren auch für mich, als ich mitten im Leben — ich hatte ja einiges schon erreicht —, nach etwas Neuem, nach Vertiefung suchte, nach neuen Herausforderungen, auch beruflich. Gelegentlich, dann häufiger, tauchten Bilder auf: Ich mit Menschen im Gespräch … in Räumen, in denen nur ein Tisch und zwei Stühle standen. Und wie glücklich ich schon mittags war, wenn ich gesprochen, wenn ich — mehr noch — zugehört hatte, die Zeit gar nicht merkte. Wie wunderbar das war. — Heute weiß ich: Diese Bilder, die am Tag mir kamen, Tagträume wohl, zeigten ein Stück Zukunft mir, gaben mir Mut, aufzubrechen. Und so geschah’s: Ich folgte den Bildern, die mir vor Augen waren. Ich machte mich auf den Weg. Heute weiß ich: Schul- und Krisenseelsorge, Telefonseelsorge, Pastoralpsychologie und Personzentrierte Beratung, all dies gäbe es in meinem Leben nicht ohne diesen Aufbruch. Und viele Menschen nicht: Weggefährten, Freundinnen und Freunde —, zum Beispiel die, die mit mir dieses noch zarte Pflänzchen C.G. Jung-Gesellschaft hier in Frankfurt aufgebaut haben und seit drei Jahren mit Leben erfüllen: Thilo Brandl, Elena Altheimer, Robert Harsieber, um nur einige aus dem Vorstand unserer Gesellschaft zu nennen.
Mit der Gründung der Frankfurter C.G. Jung-Gesellschaft im September 2018 sollte auf der Landkarte der C.G. Jung-Gesellschaften im deutschsprachigen Raum nicht nur eine 400 Kilometer breite Lücke zwischen Köln und Stuttgart geschlossen, sondern an einem Ort, der traditionell durch die Psychoanalyse Sigmund Freuds geprägt ist, auch eine längst überfällige, fachlich lohnenswerte Auseinandersetzung eröffnet werden. Ich glaube, dass uns dies bis hierher schon ganz gut gelungen ist und hoffentlich weiter gelingen wird. Neben der Einführung in Grundlagen der Tiefenpsychologie, insbesondere der „Analytischen“, kommen in unseren Vorträgen, Seminaren, Workshops und Lektürekursen vor allem Themenfelder zur Geltung, die therapeutisch, beraterisch oder seelsorglich Tätigen eine persönliche und berufspraktische Orientierung bieten.
Wenn wir mal nicht — wie heute — im Haus am Dom anzutreffen sind, dann trifft man uns im Frankfurter Stadtteil Sachsenhausen, an der Grenze zu Oberrad, in den wunderschönen Räumen der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen. Unsere Gesellschaft hat das Glück, dort beheimatet zu sein — mit all den Vorteilen, die eine universitäre Einrichtung bietet —, freundschaftlich unterstützt vom Institut für Pastoralpsychologie und Spiritualität, an dem ich selbst Lehrbeauftragter bin und von dessen Leiter, Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Klaus Kießling, ich Sie heute besonders herzlich grüßen darf.
„Im Anfang war der Traum“: Die Analytische Psychologie C.G. Jungs vertritt die Ansicht, dass der Traum ein hervorragendes Mittel ist, um Zugang zu den unbewussten Bereichen unserer Persönlichkeit zu bekommen. Träume schöpfen nicht nur aus unserem persönlichen Erfahrungsschatz. Sie verbinden uns mit einem Wissen, das aus uralten Menschheitserfahrungen schöpft und uns vor allem aus Mythen und Märchen bekannt ist, aus den Symbolbildern der Religionen und auch aus der Kunst. Das ist ein zentraler Aspekt der Jung’schen Psychologie: Dieses alte Wissen lässt sich in uns persönlich auffinden. Die archetypische Grundierung dieses Wissens kann uns mit unbekannten Tiefen unseres Selbst in Berührung bringen, unter Umständen ganz neue innere Ressourcen eröffnen.1 Um diese archetypischen Ausdrucksformen, um die Existenztiefe solcher archetypischer Bilder geht es nachher vor allem im Vortrag von Konstantin Rößler.
In meinem Beitrag möchte ich diesen zentralen Aspekt der Analytischen Psychologie in einem ersten Schritt auf seine praktische Relevanz für die Theologie hin beleuchten. Die Pastoralpsychologie, ein relativ junges Teilgebiet der Praktischen Theologie, versteht sich als Ort eines kritischen Dialogs mit Psychologie und Psychotherapie, um ein größeres Bewusstsein für eine therapeutische, eine heilende Seelsorge zu entwickeln. Deshalb fragt die Pastoralpsychologie, wie sich z.B. Krisen und Kränkungen von Menschen mit heilenden Antworten verknüpfen lassen, z.B. denen biblischer Geschichten, und wie in Symbolhandlungen, etwa einer Liturgie, Heilung vom Göttlichen her erfahren werden kann.
Das Archetypenkonzept C.G. Jungs
Hier liefern die Erkenntnisse der Psychologie C.G. Jungs, insbesondere das Archetypenkonzept, wertvolle Impulse. Archetypen sind nach Jungs Verständnis grundlegende Muster des Erlebens und Verhaltens, die stark affektiv aufgeladen sind und sich auf das Verhalten von Menschen unbewusst auswirken. Er ist davon überzeugt: Die Träume können unmöglich nur hervorgegangen sein aus neurotischen Deformationen, aus schuldbedingten Abwehrmaßnahmen, aus gesellschaftlich zeitbedingtem Druck, sondern da ist etwas buchstäblich Ewiges im Menschen, wenn man denn die riesigen Zeitkorridore der Evolution in diese Richtung so beschreiben will.2
Unterhalb des persönlichen Unbewussten mit seinen Wünschen, Trieben, Erlebnissen und Verdrängtem liegt Jung zufolge das überpersönliche, das kollektive Unbewusste. Und aus diesem, davon geht Jung aus, schöpfen alle Kulturen und Religionen ihre Mythen, Ur-Bilder und Symbole. 1912 verwendet Jung erstmals diesen Begriff „Urbilder“ in „Wandlungen und Symbole der Libido“ und entwickelt die These von den Ur-Bildern in der Seele des Menschen. Er versteht darunter objektive bildhafte Strukturen, Szenarien, Ur-Szenen, die sich im Laufe der Evolution seelisch eingeprägt haben — in einem überpersönlichen, generationen- und kulturenübergreifenden kollektiven Unbewussten. Er spricht diesen Ur-Bildern eine numinose Qualität zu. Er ist — anders als Sigmund Freud — davon überzeugt, dass sie universell, also überall auf der Welt zu allen Zeiten bei allen Menschen gleichermaßen vorhanden seien.
Jungs Archetypenkonzept ist nicht leicht zu verstehen und in der Psychologie alles andere als unumstritten, wird doch eben dieses zentrale Definitionsmerkmal des Archetyps, seine universelle, menschheitsgeschichtliche Geltung, durchaus in Frage gestellt. Über dieses Thema kommt es jedenfalls auch zum Bruch der Freundschaft mit Freud. Jungs Behauptung, die Archetypen seien biologisch fundiert und würden auf biologischem Wege vererbt, erscheint aus Sicht heutiger Humangenetik in der Tat fragwürdig. Ich möchte hier nicht auf die umfänglichen Debatten zu dieser Frage eingehen, obwohl sich dies durchaus lohnen kann, was neuere Forschungsarbeiten zu diesem Thema, wie etwa von Christian Roesler, unterstreichen.3
Für unseren Argumentationszusammenhang ist wichtig, dass es Jung — der in den 1940er Jahren sein Konzept entscheidend überarbeitet — weniger um die Frage einer biologischen Fundierung als um eine neue kulturpsychologische Sicht des Archetyps geht. Jung macht klar: Das kollektive Unbewusste kommt zustande, weil grundlegende Erfahrungen der Menschheit seit Urzeiten nicht verloren gehen, sondern in millionenfacher Wiederholung als Erinnerungsspuren ihren Ausdruck finden in der Tiefe des Unbewussten. Der Archetyp an sich ist unanschaulich, eine Struktur — ohne Inhalt —, und das archetypische Bild, sein konkreter Ausdruck, nur subjektiv erfahrbar.4
Die mythologische Bildsprache der Religion
Diese psychologische Sicht kennzeichnet fortan die Art und Weise, wie Jung sich mit mythologischen Stoffen, mit Märchen, Sagen und Legenden, mit Träumen und in der Folge eben auch mit Religion beschäftigt. Er behandelt die archetypischen Bilder als Kulturäußerungen, denen man sich nur über Interpretation nähern kann. Dies ist denn auch der springende Punkt für die so dringliche, weil not-wendige Zusammenarbeit von Analytischer Psychologie und Theologie, steht doch die Deutung mythologischer Bildsprache im Zentrum aller biblisch-exegetischen Anstrengungen. Tiefenpsychologische Schriftauslegung, wie sie im deutschsprachigen Raum vor allem durch Eugen Drewermann bekannt geworden ist, setzt bei den Bildern und Symbolen der biblischen Texte an, also an ihrer existenziellen Innenseite, nicht ihrer historischen Außenseite.5
Die historisch-kritische Methode, über die Exegeten oft nur als einziger Brille verfügen, stellt zwar die weitgehende Ungeschichtlichkeit biblischer Texte unter Beweis — zweifellos ein wichtiges Ergebnis —, sie geht aber in fataler Weise am eigentlichen Wesen dieser Texte, ihrer mythologischen Bildsprache, vorbei. Wie peinlich, wie naiv oft heute noch biblische Texte gelesen und interpretiert werden, also ob es hier vorwiegend um historische Berichte ginge! Eine tiefenpsychologische Entschlüsselung täte not, entstammen biblische Symbolwelten doch weithin eben jener traumnahen mythischen Sprache, die aus dem kollektiven Unbewussten kommt. C.G. Jung: „Ein Symbol (…) erklärt nicht, sondern weist über sich selbst hinaus auf einen noch jenseitigen, nicht fassbaren, dunkel geahnten Sinn, der in keinem Worte unserer derzeitigen Sprache sich genügend ausdrücken könnte.“6
Davor aber haben Theologen und erst recht die Kirche Angst. Das Christentum hatte bereits in seinen Anfängen mit dem erfolgreichen Kampf gegen den heidnischen Mythos eine innere Einstellung angenommen, die im Grunde nur die Kräfte des Bewusstseins, also Wille und Verstand, und letzthin nur Tugendhaftgkeit gelten ließ. Die triebnahen Kräfte der menschlichen Psyche, denen die Mythen der Völker entstammen — Traum, Fantasie, Intuition, Gefühl — wurden demgegenüber als ungöttlich und gefährlich betrachtet. Und indem dieser innere psychische Bereich ängstlich gemieden wurde, galt als „wirklich“ vor allem die äußere, dem Bewusstsein zugängliche Realität. Nur in ihr konnte und sollte Gott dem Menschen erfahrbar sein.
Kein Wunder, dass dieser Ansatz theologisch unausweichlich in ein Dilemma führen musste und spätestens mit der Aufklärung Glaube und Verstand in einen unauflösbaren Konflikt gerieten. Denn jetzt wurde nicht mehr nur die innere, sondern auch noch die äußere Realität als Erscheinungsort Gottes in Frage gestellt. Gott konnte, mit Kant gesprochen, nur noch als Postulat eines moralischen Willens akzeptiert werden. Übrig blieb eine aufgeklärte Vernunft, die in prinzipiellem Widerspruch zu allem Irrationalen, Unbewussten, Unbeweisbaren, zu allem nicht sinnlich Erfahrbaren steht und daher jeder Art von „Mythos“ den Kampf ansagen musste. Übrig blieb ein Wille, der nur noch formal und inhaltslos ins Leere griff, eine dämonisierte und verschreckte Psyche, die sich bis heute vergeblich aus den Fesseln ihrer mythenfeindlichen Unterdrückung zu befreien versucht. Es ist daher der Theologie und insgesamt der Pastoral vorzuhalten, dass sie weithin seelenlos und gefühllos geworden sind für die wirklichen Fragen der Menschen und Gott oft nur noch in toten Begriffen, in einer geschmacklos gewordenen Sprache dogmatischer Vernunft verwalten — als „eine Art Totgott“, wie ihn der kleine Carl Gustav Jung offenbar schon als Kind im väterlichen Pfarrhaus erlebt hat.
Analytische Psychologie und Seelsorge
Von der Analytischen Psychologie könnten Theologie und Kirche lernen, ihren eigenen Wirklichkeitsbegriff psychologisch zu vertiefen. Beide müssten begreifen, dass ihnen die eigene Sprache abhanden kommt, wenn sie die biblische Wahrheit auf satzhafte Informationen verkürzen und nicht aus den Gesetzen der jeweiligen sprachlichen Form erschließen: also ein Märchen als Märchen, einen Traum als Traum erfassen, was in einer Welt, die sich ihrer traumlosen technischen Machbarkeiten rühmt, geradezu heilsam sein könnte. Wie sollen Menschen in eine existenzielle Gleichzeitigkeit mit biblischen Texten gelangen, wenn deren Bildsprache gar nicht in ihrer symbolhaften Dimension erfasst wird?
Mit den Werkzeugen der tiefenpsychologischen Traumdeutung ließen sich archetypisch beeinflusste Ausdrucksformen begreifbar machen als Bilder für den inneren Weg des Menschen, der beschritten werden muss, um in das „Gelobte Land“, das heißt, zu sich selbst, zu menschlicher und mitmenschlicher Erfüllung zu gelangen. Gerade die Selbstbegegnung auf der Ebene der Archetypen könnte spirituell oder religiös Suchenden eine Annäherung an die historische Figur des Nazareners, dem Christus der Verkündigung, eröffnen, weil sie keiner Sammlung von Dogmen und Verhaltensregeln zu folgen hätten, sondern einzig der Spur einer auch in ihnen selbst zu lichtenden Wahrheit.
Ich will nur ein Beispiel nennen: die so genannten ICH BIN-Worte Jesu aus dem Johannes-Evangelium: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6) . — Diese Selbstaussage weist auf ein messianisches Bewusstsein hin, das nicht nur einem einzigen, sondern jedem zugesprochen ist, der den Weg der Menschwerdung mit anderen geht. Und wer diesen Weg geht, hat Anteil an dem einen, alles umfassenden ICH BIN, wie er sich — (wo?) — in der existenziellen Situation einer Wüste (!) dem Mose als eben dieser: als JHWH, als „ICH BIN DA, der ich da sein werde“ — vorstellt und einprägt.
Der Christus des Johannesevangeliums bestätigt diese Erfahrung: nicht ich habe —, ich bin der Weg, ich bin die Wahrheit, ich bin das Leben — und er offenbart gerade darin ein göttliches Bewusstsein: Aus diesem einzigartigen, im kollektiven Gedächtnis ganzer Völker gründenden — dort aber eben auch verborgenen — Bewusstsein heraus könnten so viele — ob gläubig oder nicht — ihr eigenes ICH BIN entdecken als eine heilsam aufrichtende göttliche Kraft. Dies gilt für archetypische Symbolfiguren generell: den Guten Vater, die Gute Mutter, den Alten Weisen, vor allem für Bilder aus dem Archetyp des Helden und der Heldin.
Die Sensibilisierung für archetypische Figuren, für biblische Symbolwelten und deren Übersetzung in den zeitgenössischen Erlebnishorizont ist eine der unerlässlichen, eine der wohl dringendsten kulturhermeneutischen Herausforderungen heutiger Theologie —, nicht um die Theologie als solche zu verabschieden, sondern um ihr allererst wieder eine Zuständigkeit in den Fragen zurückzugeben, die im Leben von Menschen im Ganzen entscheidend sind. Wenn die Theologie — und in praktischer Konsequenz die Kirche — dem menschlichen Bedürfnis nach Tröstung und Heilung wirklich nahekommen will, dann braucht sie die Deutungs- und Lesehilfe der Tiefenpsychologie — und beide, Theologie und Kirche, sollten sich ihrer zu bedienen wissen.7
Es braucht stärker als bisher eine sich aus der Analytischen Psychologie inspirieren lassende kirchliche Praxis. Denn wie immer man Religion oder Konfession im gesellschaftlich bedingten Wechsel ihrer Erscheinungsformen definieren mag: Unzweifelhaft wird Religion — und Seelsorge erst recht — daran erkennbar sein müssen, dass sie sich in möglichst vielen Bewährungssituationen an Ausdrucksformen seelischen Erlebens anzuschließen versteht, dass sie die drängenden existenziellen Fragen aus einer dogmatischen Engführung heraushält und den Menschen in seinem ganzen seelischen Erleben anzusprechen versteht: in seinen augenblicklichen und seinen immerwährenden Fragen nach Herkunft und Ziel, nach Geburt und Tod, Schuld und Vergebung, Vertrauen und Angst. Die nachlassende Intensität religiöser Erfahrung hängt wohl nicht zuletzt auch mit einer weitgehenden Verarmung des Traumerlebens in der christlichen Tradition selbst zusammen. Dass Traum- und Symboldeutung heute fast ausschließlich im Zuständigkeitsbereich therapeutischer und nicht seelsorglicher Praxis liegen, zeigt sich im Bereich christlicher Beicht- und Bußpraxis besonders deutlich. Gerade hier könnte die Symbolsprache von Traumbildern spürbar werden lassen, dass in der menschlichen Seele die notwendigen energetischen Bilder bereitliegen, um bevorstehende Entwicklungsaufgaben zu bewältigen.8
Pastoralpsychologie nach Jung
Lassen Sie mich zum Schluss nur einige, wenige Aufgaben nennen, die einer Religion nach Jung, mehr noch einer Pastoralpsychologie nach Jung dringend zukämen:
- Religion stellt die Frage nach dem Heiligen, dem „fascinosum et tremendum“ (R. Otto). Und hier gilt: Das Heilige ist ein Element in der Struktur, nicht eine Stufe in der Geschichte des Bewusstseins. Es kommt darauf an, dieses Heilige und Ewig-Gültige hinter den Variationen und Modifikationen einer jeweiligen Zeit, das sich gerade in Träumen ausspricht, als eine allgemein zugängliche psychische Ressource zu erkennen und Ratsuchenden in Therapie, Beratung und Seelsorge erfahrbar zu machen.
- Trauminhalte können als Symbole für unbewusste subjektive Inhalte aufgefasst werden.9 Im Unterschied zu Freud besteht Jung darauf, Traumsymbole nicht kausal-reduktiv als Zeichen an sich bekannter Inhalte, sondern als Ausdruck transzendenter, mittels Bewusstsein niemals vollständig aussagbarer Inhalte zu verstehen. Diese dem Finalitätskonzept Jungs zuzurechnende Methode versucht in prospektiver Absicht den Sinn archetypischer Bilder zu eruieren. Hier liegt ein wesentlicher therapeutischer Vorteil, gilt es doch den heilenden Wert dieser Bilder ohne Spaltung in Bewusstes und Unbewusstes für den je eigenen Individuationsweg als Richtungs-, als Orientierungsgrößen zu nutzen.
- Archetypische Traumbilder erfüllen eine wichtige kompensatorische Funktion. Die Autonomie des Unbewussten führt im Traum oft nicht nur in grellen Gegensatz zu den Absichten des Bewusstseins, sondern verbindet mit dieser „Gegeneinanderhaltung“ einen kompensatorischen Effekt, wodurch ein „Ausgleich“ oder eine „Berichtigung“10 entsteht, zumindest entstehen könnte. Die Kirche benötigt als ganze — das zeigt katholischerseits allein der skandalöse Umgang mit der Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs — dringend eine Auseinandersetzung mit den Verstrickungen klerikaler Trieb- bzw. Machtverdrängung11, um sich der dahinterliegenden Ursachen ihrer moralischen Doppelbödigkeiten überhaupt bewusst zu werden. An solchen Verstrickungen zeigt sich einmal mehr, dass moralische Normen selbst keinen absoluten Wert beanspruchen können und dass es gerade das Sich-Bewusstmachen verdrängter psychischer Inhalte ist, das zur Gesundung führt.
- Eine Pastoralpsychologie nach Jung stellt dem Streben nach tugendhafter Vollkommenheit das Prinzip der Vollständigkeit entgegen: „Das Individuum mag sich zwar um Vollkommenheit mühen, muss aber zugunsten seiner Vollständigkeit sozusagen das Gegenteil seiner Absicht erleiden.“12 Dieses Bemühen um Ganzheit, um die Wiederherstellung ursprünglicher psychischer Einheit nennt Jung coniunctio oppositorum, die „Synthese der Gegensätze“ 13. Diese Grundeinsicht Analytischer Psychologie steht indes in fataler Weise der Grundannahme christlicher Erbsündenlehre gegenüber, der zufolge der Mensch durch den Sündenfall in seinem Wesen böse sei und nur durch die Gnadenmittel einer äußeren Macht zum Guten geführt, sprich: „erlöst“ werden könne (vgl. Röm 5,12)14. Wenn die Kirche sich öffnen würde für eine Tiefung im Horizont der Jungschen Vervollständigungstendenz, könnte sie die Endlosschleifen solcher dogmatischer Engführungen aufbrechen. Sie müsste die Wiederholungszwänge ihrer eigenen Traumatisierung, ihre Selbstimmunisierung, die Heiligsprechung ihrer eigenen Strukturen nicht länger endlos-unbewusst reproduzieren.
So dürfte die vordringlichste Aufgabe einer Pastoralpsychologie nach Jung gerade darin bestehen, den Entwicklungs- und Wandlungsweg der Kirche tiefenpsychologisch mit zu begleiten. Sie wird die therapeutische Dimension ihrer Theologie mit der Entwicklung und Förderung spiritueller Grundhaltungen und Kompetenzen der ihr Anvertrauten zu verbinden suchen. Die Auseinandersetzung mit dem Bedrückend-Dunklen wie dem Befreiend-Hellen eines Entwicklungsweges lohnt sich. Denn das, was sich zeigt, weist über das Gezeigte weit hinaus — in die Göttlichkeit jedes Menschen.
Anmerkungen:
1 Vgl. Dieter Schnocks: Was unsere Träume sagen wollen. Botschaften aus dem Raum der Seele. Freiburg. Herder 2015, 94.
2 Vgl. Thomas Kroll: Gott als Archetypus. Carl Gustav Jungs Beziehung zur Religion. In: Deutschlandfunk Kultur vom 11.06.2011 — https://www.deutschlandfunkkultur.de/gott-als-archetypus.1278.de.html?dram:article_id=192777 (letzter Zugriff am 31.07.2021).
3 Roesler findet in den Neurowissenschaften, in der entwicklungspsychologischen und anthropologischen Forschung eine Reihe empirischer Belege dafür, dass psychologische Archetypen tatsächlich existieren, wenn auch — auf dem Hintergrund der modernen Humangenetik — nicht in Form einer Vererbung komplexer symbolischer Muster. Vgl. Christian Roesler. Analytische Psychologie heute. Der aktuelle Stand der Forschung zur Psychologie C.G. Jungs. Freiburg: Karger 2010, 40-81. — Vgl. auch C. Roesler: Das Archetypenkonzept C.G. Jungs im Lichte aktueller Erkenntnisse aus Neurowissenschaften, Humangenetik und Kulturpsychologie, in: Recherches germaniques, Carl Gustav Jung (1875-1961), Pour une réévaluation de l’œuvre / Ein neuer Zugang zum Gesamtwerk. HS 9 | 2014, 163-189 — https://doi.org/10.4000/rg.1749 (letzter Zugriff am 31.07.2021).
4 Beeinflusst von der Philosophie Kants geht auch Jungs Psychologie davon aus, dass Zeit, Raum und Kausalität als apriorische Formen der Apperzeption jeglicher menschlicher Wahrnehmung vorausliegen.
5 Als nach wie vor unübertroffen darf Eugen Drewermanns zweibändiges Standardwerk zu Tiefenpsychologie und Exegese gelten, für unseren Zusammenhang insbesondere Band 1: Traum, Mythos, Märchen, Sage und Legende. Düsseldorf/Zürich: Walter 62001, 101-162: Der Traum als Grundlage archetypischer Erzählungen — „Nicht vom Wort und von der Geschichte, sondern vom Traum, vom Bild ist auszugehen“ (153).
6 C.G. Jung: Geist und Leben. In: Ders.: Die Dynamik des Unbewussten. Gesammelte Werke; Bd. 8. Olten: Walter 1971, S. 381; § 644.
7 Darauf verweist auch Isidor Baumgartner in: Pastoralpsychologie. Einführung in die Praxis heilender Seelsorge, Düsseldorf: Patmos 21997, 578-584: Tiefenpsychologische Schriftauslegung — ein Beispiel symbolisch-narrativer Theologie.
8 Vgl. Schnocks, 131.
9 Vgl. C.G. Jung: Allgemeine Gesichtspunkte zur Psychologie des Traumes, in: Ders.: Die Dynamik des Unbewussten. Gesammelte Werke, Bd. 8, Olten/Freiburg i. Br.: Walter 1971, 269-318. — „Der Traum ist eine spontane Selbstdarstellung der aktuellen Lage des Unbewussten in symbolischer Ausdrucksform“ (ebd., 300).
10 Vgl. Jung, GW 8, 327ff.
11 In diesem Zusammenhang richtet auch Klaus Kießling „drängende Fragen an Kirche und Theologie“, u.a. dadurch, dass er die „Frage nach dem Unbewussten einer Institution“ stellt, einer Kirche, die sich den unbewussten Motiven ihres Machtgebrauchs dringend stellen müsse, wenn sie sich nicht als geschlossenes System „blickdicht abschirmen“ wolle. Vgl. Klaus Kießling: Geistlicher und sexueller Machtmissbrauch in der katholischen Kirche. Würzburg: Echter 2021, bes. 49-52.
12 C.G. Jung: Aion, Beiträge zur Symbolik des Selbst, GW 9/II, Olten/Freiburg i. Br.: Walter, 61985, 10.
13 Ebd., 78f.
14 In den Evangelien gibt es weder Zitate im Sinne einer so genannten „ipsissima vox Iesu“, noch Hinweise der Autoren auf einen Sündenfall Adams, dessen Fehler durch Jesus rückgängig zu machen gewesen wäre. Paulus aber entwickelt eine „Theologie der Sünde“ und eine damit zusammenhängende Anthropologie, die zur Grundlage der späteren Erbsündenlehre wurde. — Michael Pflaum sieht im negativen Menschenbild der Augustinischen Erbsündenlehre sogar den Nährboden für die Machtstruktur des Klerikalen, in dem der Priester manipulativ und gewaltsam wirken könne, ohne entdeckt zu werden. Vgl. Michael Pflaum: Für eine trauma-existentiale Theologie. Missbrauch und Kirche mit Traumatherapien betrachtet. BoD 2021.
Vortrag anlässlich des dreijährigen Bestehens der C.G. Jung-Gesellschaft Frankfurt a.M. am 4. September 2021 in der Akademie Rabanus Maurus in Frankfurt
© 2021 Ludger Verst
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