Von Robert Harsieber
Sigmund Freud zufolge gibt es drei, das Selbstverständnis der Menschen erschütternde und im Grunde bis heute nicht bewältigte narzisstische Kränkungen: die kosmologische durch Kopernikus, die biologische durch Darwin und die psychologische durch die von Freud selbst entwickelte Libidotheorie des Unbewussten.
Diese umstürzenden wissenschaftlichen Entdeckungen sind heute allgemein bekannt als:
1. Kopernikanische Wende: Im Mittelpunkt steht nicht mehr die Erde, sondern die Sonne, um die sich der Planet Erde dreht.
2. Evolutionstheorie: Der Mensch ist nicht als Krone der Schöpfung geschaffen, sondern „Ergebnis“ der Evolution und hat gemeinsame Vorfahren mit dem Affen.
3. Psychoanalyse: Der Mensch – eigentlich das Ich – ist nicht Herr im eigenen Haus. Es gibt mit dem so genannten Unbewussten eine Instanz, die sich seiner Herrschaft entzieht.
Aus diesen Einschnitten in den naiven Narzissmus resultierte zwar jeweils ein ungeheurer Fortschritt wissenschaftlicher Erkenntnis, gleichzeitig aber auch eine Verengung des Welt- und Menschenbildes. Von Anfang an sah sich der Mensch als die „Krone der Schöpfung“ und als Mittelpunkt der Welt. Dass dies eine mythologische Sicht ist, war nicht bewusst, solange man noch irgendwie im Mythos verhaftet war. Soweit, so gut. Freud zufolge wurde die Menschheit jedoch von ihrem Thron gestürzt und vom Mittelpunkt an den Rand gedrängt. Der Krone der Schöpfung brachen nach und nach die Zacken weg. Aber es war der notwendige Weg vom mythologischen zum wissenschaftlichen Welt- und Menschenbild.
Kränkungen als Motoren des Wandels
1. Die Kopernikanische Wende beschreibt einen solchen Schritt vom mythischen zum wissenschaftlichen Weltbild. Bei genauerem Hinsehen vollzieht sich hier nicht einmal eine Wende, denn das mythologische Weltbild wird nicht obsolet, sondern bleibt als psychologische Welt- und Erlebnissicht weiterhin wahr und als solche erhalten. Das mythologische Bild der Erde als Mittelpunkt hat ja nichts mit dem Planeten Erde zu tun (das ist schon der wissenschaftlichen Sicht entnommen), sondern es geht um „das Materielle“, das umgeben ist von „höheren oder subtileren Sphären“ bis hin zum Geistigen. Das ist als mythische oder psychische Sicht auch heute noch so. Kopernikus markiert den Beginn des naturwissenschaftlichen Zeitalters, in dem es um den Planeten Erde geht, nicht mehr um das Irdische.
2. Auch die Evolutionstheorie setzt eine Verschiebung des Standpunkts voraus. Die mythologische Sicht einer Schöpfung kommt nirgends einer Evolutionstheorie in die Quere, weil sie die Antwort auf eine andere Frage ist. Die Genesis erklärt das Was oder Warum in einer mythischen Erzählung, die Evolutionstheorie erklärt das Wie aus wissenschaftlicher Sicht. Es gibt hier keinen Widerspruch, weil das zwei verschiedene Sichten auf die Wirklichkeit sind – eine innere und eine äußere Perspektive.
3. Dass der Mensch sich nach Freud nicht mehr als Herr im eigenen Haus fühlt, setzt die beiden vorausgegangenen Kränkungen voraus. Es geht nicht mehr um den Menschen, sondern nur mehr um die äußere Fassade. Die Kränkung ist der menschlichen Hybris (nicht nur zur Zeit Freuds) geschuldet. Der auf das Ego reduzierte Mensch kann nicht mehr Krone der Schöpfung sein. Das Ich kann nicht Herr im „eigenen“ Haus sein, solange es sich vom Über-Ich bevormunden und vom Es dreinreden lässt. In der Sprache C.G. Jungs kommen noch Anima/Animus, Schatten usw. dazu. Erst wenn das Ich nach deren Integration lernt, auf das Selbst zu hören, bewohnt es das ganze Haus.
Manche fügen dem noch eine vierte Kränkung hinzu, nämlich die der Neurobiologie und Hirnforschung, die angeblich den freien Willen des Menschen eliminiert haben, indem sie ihn durch sein Gehirn ersetzen. 2004 publizierten elf Hirnforscher ein großspuriges „Manifest“, in dem sie das Jahrhundert der Hirnforschung ausriefen und versuchten, die Deutungshoheit über den Menschen – oder was sie dafür hielten – an sich zu reißen: Man werde in absehbarer Zeit in der Lage sein „die schweren Fragen der Erkenntnistheorie anzugehen … Denn in diesem zukünftigen Moment schickt sich unser Gehirn ernsthaft an, sich selbst zu erkennen“. Die Lösung sei also, nicht mehr vom Menschen, sondern nur mehr vom Hirn zu reden. Unschwer ist dies als Umformulierung der dritten Kränkung zu erkennen, weil sie im Grunde gar nichts Neues hinzufügt.
4. In dieser Terminologie bleibend, müsste man noch eine vierte Kränkung hinzufügen: die Quantentheorie. Die zeigt nämlich, dass auch die Umwelt nicht das ist, wofür sie bislang gehalten wurde. Es gibt keine objektive Realität. Gekränkt fühlen könnte sich hier vor allem die (klassische) Naturwissenschaft, die der Illusion erlag, die Welt untersuchen zu können, indem man vom Beobachter abstrahiere. Die Naturwissenschaft war aber so erfolgreich und wirkmächtig, dass sie bald das allgemeine Weltbild prägte und die Welt auf messbare Objekte reduzierte. Richtig ist: Wir sehen von der „Welt“ gewöhnlich nur die Dinge als Objekte. Was wir tatsächlich sehen, ist aber nicht „objektiv“, sondern immer ein Zusammenspiel von Außen und Innen. Es gibt keine Welt unabhängig von unserem Wahrnehmungsvermögen. Was wir heute „Welt“ nennen, ist bestenfalls die halbe Wirklichkeit. Wir glauben, in einer Welt von äußeren Dingen und Objekten zu leben. Die Logik der Quantentheorie entlarvt dies als Illusion. Die Teilchen-Sicht allein kann die Welt nicht erklären.
Das materialistische Weltbild liefert nur die halbe Wahrheit.
Die sogenannten Kränkungen sind Ausdruck dafür, dass Fortschritt immer auch gleichzeitig Rückschritt bedeutet. Der wissenschaftliche Fortschritt bedingt ein reduktionistisches Welt- und Menschenbild – zumindest bis 1900. Aus allgemeinmenschlicher Sicht läutet die Kopernikanische Wende die Naturwissenschaft ein, die Natur nicht mehr als Ganzes betrachtet, sondern zwischen Außen und Innen (Descartes: res extensa und res cogitans) unterschied, um sich der Materie zuwenden zu können. Damit begann die Erfolgsgeschichte der Naturwissenschaft. Schiefgelaufen ist dabei nur, dass man die ursprüngliche Unterscheidung später als Trennung interpretierte und dann in einem Pseudomonismus die „andere“ Seite (res cogitans) als Epiphänomen der Materie betrachtete.
Die Quantentheorie bereitete diesem Reduktionismus ein Ende und rehabilitierte die früheren unterschiedlichen Sichtweisen. Sie deckte auf, dass das materialistische Weltbild (die Teilchensicht) nur die halbe Wirklichkeit ist, die durch eine Wellensicht (der Felder und Beziehungen) ergänzt werden müsse, wolle man überhaupt von „Welt“ reden. Und auch die Frage, ob sich die Sonne um die Erde drehe oder umgekehrt, müsse man seit Einstein dahingehend beantworten, dass sie sich relativ zueinander bewegten.
Auch die Evolutionstheorie stürzt den Menschen nicht wirklich vom Thron. Er hat zwar gemeinsame Vorfahren mit den Affen, ist aber immer noch die „Krone der Schöpfung“, das (bisherige) Endprodukt oder der (vorläufige) Höhepunkt der Evolution. Wenn es eine Evolution vom Einzeller bis zum Menschen gibt, dann kann es auch eine Evolution darüber hinaus geben. Darüber wären dann eben nicht die Physik oder Biologie, sondern die Psychologie, Philosophie und Theologie zu befragen. Was auch kein neuer Gedanke ist, denn der Archäologe und Theologe Teilhard de Chardin hatte ihn in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schon formuliert. Die äußere Evolution des Menschen setzt sich in einer inneren fort.
Letztlich geht es darum, dass Descartes Innen und Außen, Subjekt und Objekt, unterschied und wir diese Unterscheidung als Trennung interpretierten. Diese unbegründete Interpretation müssten wir zurücknehmen. Sowohl die moderne Physik als auch die Tiefenpsychologie entlarven diese Trennung als Aberglauben. Es gibt kein isoliertes Subjekt und auch keine isolierten Objekte. Es gibt kein von der Außenwelt isoliertes Ich und keine vom Ich unabhängige Außenwelt.
Das Problem ist, dass eine solche Sicht der europäischen Logik zuwiderläuft und ein neues Denken noch nicht in Sicht ist. Die Tragweite des Problems liegt darin, dass diese vierte Kränkung selbst innerhalb der Physik noch kaum als solche wahrgenommen wird. So sind die meisten Physiker noch immer auf der Suche nach kleinen und kleinsten „Teilchen“, obwohl sie längst wissen könnten, dass Elementarteilchen gar keine Teilchen sind.
© 2017 Robert Harsieber