Von Ludger Verst
„Am siebten Tag vollendete Gott das Werk, das er geschaffen hatte, und er ruhte am siebten Tag, nachdem er sein ganzes Werk vollbracht hatte“ (Genesis 2,2).
Wenn man dem Wortlaut der Schöpfungsgeschichte des Buches Genesis folgt, erschafft Gott die Welt in sieben Tagen. Sechs Tage ist er schöpferisch tätig, am siebten Tag ruht er. Die Vollendung der Schöpfung ist kein weiterer, neuer Schöpfungsakt, vielmehr wird das gesamte Werk durch Ruhe vollendet. Nach diesem Verständnis steht Ruhe nicht in Opposition zu Arbeit oder Anstrengung, sondern sie bewirkt, was aus guter Arbeit von selbst hervorgeht. Ruhe ist das Ziel, auf das alle Werke zulaufen. Man könnte sie betrachten als die „Krone der Schöpfung“.
In der Septuaginta, der griechischen Übersetzung des Alten Testaments für hellenistische Juden, später auch für Judenchristen, wird die Bedeutung der Ruhe merkwürdigerweise abgeschwächt: „Und Gott vollendete am sechsten Tag seine Werke, die er gemacht hatte, und er ruhte am siebten Tag von all seinen Werken (…) aus“ (Gen 2,2 LXX). Das ist eine andere, typisch griechische Interpretation des hebräischen Ausgangstextes. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht ein mehr oder weniger anstrengendes Schöpfungswerk, von dem sich der Schöpfer erholen will, bevor es mit anderem weitergeht. Ruhe ist hier Abwesenheit von Arbeit. Sind gesteckte Ziele erreicht, löst sich vorübergehend die Anspannung des Strebens und es kehren Ruhe und Gelassenheit ein – bis zur nächsten Anstrengung. Glücklich ist, wer in der Welt auf diese Weise seine Erfüllung findet, ablesbar z.B. an Schönheit, Reichtum oder Macht.
Schnell wird klar, dass moderne Arbeitsprozesse und die dazugehörende „Leistungsmoral“ nicht vom hebräischen, sondern deutlich vom griechisch-abendländischen Geist beeinflusst sind. Höchstleistungen, die über den Verlauf von Karrieren entscheiden, benötigen eine Entschlossenheit zum Äußersten. Sie setzen Menschen zueinander in Konkurrenz um die wenigen kostbaren Plätze an der Sonne. Es wird gearbeitet, um am Ende besser zu sein oder es zumindest besser zu haben als der Mensch von nebenan – mit all den Gefahren körperlicher und seelischer Überforderung. Hier äußert sich eine vorrangig außenorientierte Vorstellung vom Lebensglück.
Lässt sich am biblischen Schöpfungsmythos ein „göttliches Leistungsprinzip“ ablesen?
Umso wichtiger erscheint mir in diesem Zusammenhang ein kritischer Blick auf die Wurzeln einer von der biblischen Tradition entscheidend mitgeprägten Lebens- und Arbeitseinstellung. Gegen ein weitgehend historisierendes Verständnis des Genesis-Textes plädiere ich für eine Sichtweise, die die Entstehungsgeschichte und den biblischen Kontext genauer in den Blick nimmt. Die meisten Exegeten vertreten inzwischen den Standpunkt, dass die Schöpfungsgeschichte Gen 1,1 – 2,4a im babylonischen Exil entstanden und als „Theologie der Hoffnung“ zu interpretieren sei. Biblische Schöpfungstexte seien angesichts einer unerträglichen Gegenwart, wie sie das Exil darstellt, Ausdruck der Hoffnung auf ein gutes Leben, präsentiert in Hoffnungsgedichten, Sehnsuchtsbildern und Protestgesängen. Den herrschenden Verhältnissen würden kontrafaktisch visionäre Utopien entgegengesetzt. Darin liege ihre kritische Pointe.
Schöpfungstexte sind ganz offensichtlich nicht daran interessiert, wie die Welt und der Mensch entstanden sind. In Schöpfungstexten spiegeln sich die Visionen alttestamentlicher Prophetie, dass wider allen Anschein und „trotz allem“ eine andere, eine gute und gerechte Welt möglich ist. Diese Visionen sind, wie der Theologe Andreas Benk es formuliert, „keine weltflüchtigen Illusionen, sondern orientierende, praxis- und politikrelevante Widerstandsliteratur und Hoffnungstexte“¹.
Der biblische Gott ist ein befreiender Gott
Wer auf Schöpfung setzt, entscheidet sich zum Widerstand gegen eine verkehrte Welt und besteht darauf, dass es zu ihr eine lebens- und menschenfreundliche Alternative gibt. Bis heute nimmt die Weltgeschichte theologisch ihren Ausgangspunkt beim Paradies. Der Sündenfall beschreibt „ein Urereignis, das zu Beginn der Geschichte der Menschen stattgefunden hat“, behauptet der Katechismus der Katholischen Kirche. Gegen diese historisierende Deutung liegt der Kern des alttestamentlichen Glaubens jedoch im Exodus-Geschehen. Der biblische Gott ist vor allem ein Befreier-Gott. „Die Bibel beginnt zwar mit der Erschaffung von Himmel und Erde, aber sachlich ist die zentrale biblische Gottesvorstellung eben nicht diejenige von Gott als Schöpfer. Der Gott Israels und der Gott der Bibel ist zuerst und vor allem ein Gott der Befreiung“ (184f.). Er befreit aus Unterdrückung, Ausbeutung und Hoffnungslosigkeit. Sein befreiendes Handeln wird von den Propheten bezeugt, die die heillosen Zustände einer scharfen Kritik unterziehen. Sie stellen der deprimierenden Gegenwart Visionen entgegen, wie alles auch ganz anders sein könnte: „fair, menschlich, lebensfreundlich. Mehr noch: Diese Prophetie setzt darauf, dass eine Alternative zum Bestehenden nicht nur möglich ist, sondern tatsächlich wirklich werden würde“ (22). Die Verkündigung und das Wirken Jesu liegen auf dieser Linie biblischer Prophetie und Schöpfungstheologie. Jesu Reich-Gottes-Prophetie kann verstanden werden als eine „aktualisierende Dramatisierung visionärer Schöpfungstheologie“ (23).
Konsequenzen
Dies wirft nun ein ganz neues Licht auf die biblische Vorstellung von Anstrengung und Ruhe und den Zusammenhang von Leben und befreiender Entwicklung. „Gott sah, dass es gut war“ ist nicht länger die Feststellung über ein einst bestandenes Paradies, dem Menschen seitdem arbeitend hinterherlaufen, sondern der Ausdruck einer überschüssigen visionären Kraft, die zur Veränderung der Welt und zur befreienden Entwicklung ihrer Subjekte drängt. Die Schwäche traditioneller Schöpfungstheologie – dass nicht ist und nicht erfahren wird, was sie behauptet – ist die Stärke visionärer Schöpfungstheologie. Es macht gerade den Reiz und die Attraktivität ihrer Visionen aus, dass das Bild, das sie von der Welt malen, ganz anders ist als die Welt, die wir erleben. Für unsere Fragestellung bedeutet dies:
- Visionärer Schöpfungsglaube setzt darauf, dass eine gerechtere und lebensfreundlichere Welt möglich ist. Es gibt eine Alternative zu den herrschenden Verhältnissen, die Menschen kleinmachen, sie auf bestimmte Rollen festlegen und darin kontrollieren wollen.
- Visionärer Schöpfungsglaube ist nicht gleichbedeutend mit moderner Glücksphilosophie. Er stellt dem Zeitgenossen – über ein bloßes „Zufallsglück“ und „Wohlfühlglück“ hinaus – ein „Leben in Fülle“ (Johannes 10,10) als das wirkliche Glück eines sinnerfüllenden Lebens in Aussicht. Dieses Glück ist nicht dadurch zu erreichen, dass alles Wünschbare in Erfüllung geht. Es erwächst vielmehr aus einer bewusst eingenommenen inneren Haltung, die nicht nur Angenehmes, Lustvolles, also „Positives“ zulässt, sondern auch „Negatives“, Unangenehmes und Schmerzliches, auf deren Durcharbeitung und Heilung sie abzielt.
- So erweist sich dieser Glaube gerade darin als handlungsleitend, als er Menschen dazu anregt, die Widersprüche ihres Lebens wahrzunehmen, sich mit ihnen – wenn auch schmerzhaft – auseinanderzusetzen und dies als Chance zu begreifen, in einen größeren Frieden mit sich selbst und mit anderen hineinzuwachsen. Der hebräische Text der Schöpfungsgeschichte zeigt, dass alles Werden und Sich-Entwickeln seinen Wert in der Ruhe entfaltet, für die sinnbildlich die Ruhe am „siebten Tage“ steht. Eine Ruhe, die sich nicht einfach herstellen und erzwingen lässt, sondern in einem Leben, in dem das Selbst sich frei entfalten kann, erhofft und als Sinnfülle erfahren werden kann.
Das Hoffnungsvolle einer solchen Haltung liegt darin, dass auch der steinigste Weg zu sich selbst, zum inneren Frieden in der „Ruhe der Seele“ gipfeln wird. Keine Wüste und kein Krieg mehr, sondern gutes fruchtbares Land: „So gab der HERR Israel das ganze Land, das er seinen Vätern zu geben geschworen hatte. Sie nahmen es in Besitz und wohnten darin. Und der HERR verschaffte ihnen Ruhe ringsum, genau so, wie er es ihren Vätern mit einem Eid zugesichert hatte. Keiner ihrer Feinde konnte ihnen Widerstand leisten (…). Keine der Zusagen, die der HERR dem Hause Israel gegeben hatte, war ausgeblieben. Jede war in Erfüllung gegangen“ (Josua 21, 43-45).
¹ Andreas Benk: Schöpfung – eine Vision von Gerechtigkeit. Was niemals war, doch möglich ist. Ostfildern 2016, S. 218 – Weitere Zitate und die entsprechenden Seitenangaben werden im Text kenntlich gemacht.
© 2017 Ludger Verst