Teil 1
Von Robert Harsieber
Es gehört zu den Paradoxien menschlicher Erkenntnis und entspricht zugleich einer tiefen psychologischen Wahrheit, dass sich das Wesen der Dinge immer wieder in einer je eigenen Gegensatzspannung zeigt, worauf vor allem der Schweizer Psychologe C.G. Jung hingewiesen hat (GW, Bd. 8, § 103).
Die Erfahrung der zurückliegenden zwei Jahrtausende zeigt allerdings den wohl unstillbaren menschlichen Drang, Gegensätzliches nicht nur genau zu unterscheiden, was sich evolutiv durchaus als (über-)lebenswichtig erwiesen hat, sondern es darüber hinaus auch in „Gut“ und „Böse“ zu trennen. Im Streben nach dem Guten müsse das Böse bekämpft, am besten eliminiert, zumindest aber „überwunden“ werden.
Wider die Verdrängung des Negativen
Im religiösen Kontext bedeutete dies oft die Verleugnung und Verteufelung des Negativen, dem man mit Selbstkasteiung bis hin zur Selbstgeißelung oder zum Märtyrertum beizukommen trachtete. Die Abwertung der Frau als die Abwertung des Anderen sowie die Verdrängung des eigenen Schattens kommen allerdings auch im nicht-religiösen Kontext vor. Idealen wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit musste, so lehrt die „Aufklärung“ durch die Französische Revolution, notfalls mit Gewalt nachgeholfen werden. Das heutige harmlos erscheinende „positive Denken“ ist demselben Prinzip der Leugnung und Verdrängung des Negativen geschuldet.
Nun mündet ein Leben im Zeichen des Guten immer im Krieg, weil das Gute gegen das Böse verteidigt werden muss. Höhepunkte waren die Inquisition, die Religionskriege und die Weltkriege. Die Inquisition war zunächst ein ungeheurer Fortschritt und brachte erstmals Rechte für die Angeklagten. Dieser Fortschritt war so eindeutig, dass die weltlichen Gerichte das sofort übernahmen. Allerdings ging dieser Fortschritt im Kampf gegen das Böse sehr schnell unter, was nicht nur auf die Religion zurückzuführen ist. Geistliche und weltliche Macht arbeiteten da zeitgeistig Hand in Hand. Oft versuchten Bischöfe sogar zu bremsen. Die Religionskriege standen im Zeichen der Guten (der jeweiligen Seite), wie die Weltkriege im Zeichen der Feindbilder standen, die das „Gute“ behinderten. Heute sind es andere Feindbilder.
Leben ist das, was den Gegensatz aushält.
Hegel sagt dazu, dass dieser Gegensatz ausgehalten werden müsse. Genau das ist in der Vergangenheit nicht passiert. Statt Gegensätzliches auszuhalten, wurde das Böse, das sich nicht so leicht unterkriegen lässt, bekriegt. Der Kreuzzug gegen das Böse ist aber nicht zu gewinnen. Das drückt C.G. Jung im Roten Buch sehr drastisch aus: „… je mehr die eine Hälfte meines Wesens zum Guten strebt, desto eher fährt die andere Hälfte zur Hölle“ (S. 416). Die Bekämpfung des Bösen führt notwendig zum Stillstand, weil es das Wachstum behindert. Eine Pflanze kann nur wachsen, wenn es das Licht und die Wärme von oben und das Feuchte und Dunkle von unten bezieht und im Wachsen vereint. Umgekehrt: „Wenn die Kraft des Wachsens zu erlöschen beginnt“, so Jung, „dann zerfällt das Geeinte in seine Gegensätze“ (416).
Eine Gesellschaft, die das sogenannte Böse im Außen bekämpft, schneidet sich von den eigenen Wurzeln ab und muss an ihren Dogmen vertrocknen. In unserer Kultur wurde das Böse nicht nur bekämpft, sondern verniedlicht und als „privatio boni“, als Mangel an Gutem wegrationalisiert. Das eine wird rational definiert und damit begrenzt, das andere ebenso rational ausgegrenzt und verdrängt. Wie ein Leben auf einer rationalen Insel im (verleugneten) Meer des Irrationalen, das im Sturm an Land peitscht und die Behausungen der Ratio zu überschwemmen droht.
Heute leben wir im Übergang zum Bewusstwerden des Bösen. Kriege, Terror und Gräuel gab es immer schon, es wird nur durch die zeitnahe mediale Verbreitung immer schwerer wegzuschauen. Der nächste Schritt wäre, das Äußere als Projektion des Inneren zu begreifen.
Es ist möglich, Gegensätze bewusst zu machen und zu integrieren.
Dies würde den Stillstand beenden und neues Wachstum ermöglichen. Ein bloßes Wachstum im Außen (z.B. als Wirtschaftswachstum) ist nichts als Stillstand — so wie eine Evolution, die nicht über den aktuellen Menschen hinausdenkt, keine Entwicklung ist.
Bisher bediente Hollywood die menschliche Attraktion des Bösen. Man konnte es bei Popcorn und Coca Cola auf der Leinwand ausleben. Heute wird für manche Jugendliche der IS zur Attraktion; selbst frühreife Mädchen begeben sich auf die suizidale Reise nach Syrien, um das Böse am eigenen Leib auszukosten – immer noch getarnt als das idealisierte Gute.
Etwas „zivilisierter“ erstarkt eine politische neofaschistische Rechte in ganz Europa. Der Hass gegen das nach außen projizierte Andere, Fremde und Böse wird immer offener zelebriert und ist längst salonfähig. Früher wagte es kaum jemand, sich als Wähler einer rechten Partei zu outen. Man tat es heimlich, heute offen und wie selbstverständlich.
Das Böse als Projektion
Das Böse gerät immer mehr in den Fokus, wird aber mehr denn je projiziert. Und immer noch wird es als Kampf für das Gute, für eine (positive) Veränderung ausgegeben. Auch diejenigen, die sich vom Kampf der Religion für das Gute und gegen das Böse abwenden, kämpfen jetzt mindestens ebenso fanatisch für gesunde (aber genauso einseitige) Ernährung und gegen das Tierleid, während menschliches Leid kaum beachtet wird.
Jesus von Nazareth steht am Beginn dieses Zeitalters der Gegensätze. Gelehrt und vorgelebt hat er nicht die Trennung, sondern die Vereinigung der Gegensätze, die Liebe. Die Kirche verkündigt diese Vereinigung — etwa im Credo: „Jesus Christus ist wahrer Gott und wahrer Mensch“ oder in der Enzyklika „Ut unum sint“ (1995) —, lebt sie aber selber oft nicht. Statt in der Vereinigung des Irdischen mit dem Himmlischen das Göttliche zu entdecken, weil Christus das Böse überwunden und integriert hat (symbolisch: „hinabgestiegen in das Reich des Todes“), begann die Kirche erneut, das Böse zu bekämpfen. Während es mittlerweile so aussieht, als sei die Kirche am Ende, muss man aus dieser Sicht sagen, dass das christliche Zeitalter noch gar nicht begonnen hat.
© 2017 Robert Harsieber