Von Robert Harsieber und Ludger Verst
Ein gutes Jahrhundert nach den Pionierleistungen der Psychoanalytiker Freud und Jung vermittelt sich ein merkwürdiger Eindruck: Kaum jemand hat — selbst in den Humanwissenschaften — so recht begriffen, dass das Leben primär ein psychisches ist. Es geht im Leben unvermeidlich um Entwicklung. Wirklichkeit ist, was in der Realität der Psyche eine Wirkung ausübt. Menschen suchen in Konflikten nach wirkungsvollen Lösungen. Häufig aber werden Konflikte dadurch zu lösen versucht, dass deren unangenehme, dunkle Seite nach außen projiziert wird. Die Welt ist dann so, wie sie in der Projektion erscheint: hier gut und dort böse.
Eine Religion auf der Höhe der Zeit könnte dazu beitragen, das Projektive zu reduzieren und nicht in zwei Welten zu denken, in Himmel und Erde.
Sie könnte die Menschen in einem gemeinsamen Lebensraum beheimaten und diesen so mitgestalten, dass Menschsein immer besser gelinge. Was aber heißt Menschsein? Kurz: Menschsein heißt, mit Gegensätzlichem umzugehen. Zum Beispiel die über alles Geliebten zu verletzen, ohne es zu wollen. Oder vor Gericht zwar zu Recht, aber nicht zu Gerechtigkeit zu gelangen.
Menschsein heißt, die eigene Endlichkeit und Begrenztheit anzunehmen, ohne die Ausrichtung auf das Unendliche zu verlieren.
Die christliche Religion erkennt in Jesus von Nazareth den Prototyp eines solchen, auf Unendliches ausgerichteten Menschen. Das Glaubensbekenntnis der Kirche nennt Jesus „wahrer Gott und wahrer Mensch“. Er ist ganz „beim Vater“, Ursprung und Vollendung, und er ist ganz Mensch, in all seiner Endlichkeit und Gebrochenheit. Das zur Welt kommende Wort Gottes offenbart sich im Menschen als ein Sich-Bewusstwerden dieser Göttlichkeit. Menschsein umfasst in seiner Göttlichkeit Endliches und Unendliches. Der Mensch trägt wie Jesus das Absolute und das Endliche in sich — als ein göttliches Wesen, das menschliche Erfahrungen macht.
Ihm wohnt der Anspruch inne, in der Menschlichkeit zu wachsen, vom Ego zum Selbst zu gelangen und die in dieser Entwicklung liegenden Konflikte immer weniger nach außen zu projizieren, sondern sie zu bewältigen und ins Eigene zu integrieren.
Dies ist der Kern der Botschaft Jesu: die Überwindung eines pharisäerhaften, strikten Gesetzesgehorsams hin zu einer Kommunikationskultur der Liebe und Geschwisterlichkeit.
Eine in dieser Hinsicht sensible Religion will Widerstreitendes komplementär vereinen, will helfen, alles Menschliche anzunehmen, Abgründe nicht zu negieren, sondern versöhnt zu überwinden. Religion zeigt nicht, was das Unendliche oder Gott ist – es ist nicht möglich, sich ein Bild davon zu machen, sondern was Menschwerden bedeutet: von der Geburt eines göttlichen Funkens im Stall der menschlichen Abgründe über das Annehmen des Leidens an den Widersprüchen dieser Welt bis zur Auferstehung von den Toten, dem Bewusstwerden des Unbewussten, wodurch auch das Unterste und das Innerste gehoben und erhöht werden wird zu Gott. Dazwischen liegen viele Wunder der Verwandlungen, die Augen und Ohren öffnen und immer wieder beweglich und entwicklungsfähig machen.
© Robert Harsieber/Ludger Verst (2017)