„Bist du auf Unendliches bezogen?“

| Von Robert Harsieber |

Sie ist das Motto der Frankfurter Jung-Gesellschaft, für den Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung die entscheidende Frage des Menschen überhaupt: „Bist du auf Unendliches bezogen?“ Darin drückt sich nicht nur aus, dass der Mensch immer mehr ist als bloß Menschliches, sondern auch, dass Bezogenheit – im patriarchalen Denken – der äußerst mögliche Ausdruck des Weiblichen ist. Jung ist als Person durchaus ein Vertreter des Patriarchats, der aber die „weibliche“ Welt des Unbewussten entdeckt und erforscht.

Psychisches als „objektive Tatsache“?

Im patriarchalen Umfeld der Wissenschaft beginnt also C.G. Jung sich mit der Innenwelt zu beschäftigen. Dabei besteht er darauf, Naturwissenschaft zu betreiben. Sein „Gegenstand“ ist die innere Natur des Menschen, die aus der Naturwissenschaft für gewöhnlich ausgegrenzt wird. Für Jung ist dies eine Gratwanderung: Man kann Psychisches als objektive Tatsachen erforschen, die jedoch – anders als in der Außenwelt – individuell sind. Objektiv ist das Muster, die Ausgestaltung ist individuell. Dass dies im Außen prinzipiell genauso ist – denken wir nur an Kristallstrukturen – wird in der Naturwissenschaft unterschlagen.

In der Sprache der Psychologie ist das Denken der Physik Newtons ein zutiefst männlich-fragmentierendes Denken. Es geht immer um Dinge und Teile und immer kleinere Teile. Noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts suchte man die kleinsten Bausteine der Welt und glaubte dann zu wissen, wie die Welt aufgebaut ist. Ein Irrglaube, wie sich herausstellte. Die kleinsten Strukturen sind keine Dinge oder Teilchen, sondern etwas ganz anderes, für das wir keine Anschauung haben. Oder wie es Hans-Peter Dürr formuliert: keine Teilchen, sondern Beziehung, aber auch nicht Beziehung von etwas, sondern nur Beziehung. Dies ist im Grunde nur mit „weiblichem Denken“ zu erfassen.

Psychische Phänomene sind keine Dinge, sondern Strukturen, die Beziehungen ausmachen.

Komplexe sind in der Psychologie Jungs keine abgegrenzten Entitäten, sondern umfassende Beziehungen oder Beziehungsmuster. Der Ich-Komplex z.B. beschreibt alles, was auf das bewusste Ich bezogen ist. Kein „Ding“, sondern dynamische Beziehung, die sich ständig verändern kann. Schwierig wird es, wenn Jung von der Ich-Selbst-Achse spricht. Das Selbst ist ein zentraler Begriff der Analytischen Psychologie, aber als Archetypus unbewusst und nur zu umschreiben als Zentrum und Umfang der Psyche als ganzer. Symbolisch ist das Selbst Punkt und Kreis zugleich, wobei der mathematische und der symbolische Punkt nichts unendlich Kleines sind, sondern quasi ein Nichts. Und der Kreis drückt symbolisch auch nicht unendliche Ausdehnung aus, sondern quasi alles und nichts – das ganz Andere. Für Jung entspricht das Selbst den Gottesvorstellungen, was – wie er betont – nichts über die Existenz oder Nicht-Existenz eines Gottes aussagt. Es ist einfach psychische Realität. Das wiederum trug ihm den Vorwurf der Psychologisierung von Religion ein.

Jung war ein Pionier und Grenzgänger: zwischen Außen und Innen, zwischen Physis und Psyche, zwischen Psychologie und Spiritualität. Was Jung vom Selbst aussagen konnte, war das Äußerste, das ihm die naturwissenschaftliche Terminologie und das westliche Denken erlaubten. Einmal antwortete er in einem Interview auf die Frage, ob er an Gott glaube oder nicht, spontan: „Ich glaube nicht, ich weiß!“ Diese Antwort hat ihn selber überrascht, wie er dann zugeben musste, aber es war wohl eine Äußerung seines (unbewussten) Selbst. Meister Eckhart sagte schon, am Grunde der Seele finde sich das, was man allgemein als „Gott“ bezeichne. Jung hat es als Selbst bezeichnet und meinte damit genau dies. Man könnte sich von traditionellen Vorstellungen von äGott verabschieden, und es – wie Jung – das „Numinose“ nennen.

Nicht Begriff, sondern Erfahrung

„Bist du auf Unendliches bezogen…?“ — Worauf es ankommt: Dieses Unendliche ist nicht der abstrakte rationale Begriff des Unendlichen, sondern das „Numinose“, kein Begriff, sondern eine Erfahrung. Ein Ergriffen- und Überwältigt-Sein von „etwas“, das über das bewusste Ich hinausgeht. Da es von außerhalb des Ich kommt, wird es als Außen erlebt oder nach außen projiziert. Es ist aber tiefenpsychologisch innen, es kommt aus der eigenen Tiefe (die auch außerhalb des Ich ist), aus dem Selbst, aus der Ganzheit des eigenen Seins. Ganzes ist immer unsagbar und unnennbar. Es ist daher gleich gültig, ob ich sage, es sei ein „Göttliches“, oder ob ich sage, es sei ein Innerstes.

© 2024 Robert Harsieber

Die Trinität und das Weibliche

Zur Rolle des Weiblichen in der Religion

| Von Robert Harsieber |

Wir wissen, dass C.G. Jung applaudiert hat, als der damalige Papst Pius XII. am 1. November 1950 das Dogma der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel verkündete. Die Trinität war bis dahin ein reiner „Männerverein“, dem das Weibliche völlig fremd war. Jung sah das auch unter dem Aspekt der Quaternio, dass die Drei unvollständig sei und nur die Vier die Ganzheit darstellt.

Nun ist Symbolik immer vielschichtig und mehrdeutig. Eine vorgelagerte Ebene ist, dass die Vier das Materielle und die Drei das Geistige bedeutet. In der Zahlensymbolik sind die geraden Zahlen weiblich und die ungeraden männlich. Es ist also durchaus sinnvoll, dass die materielle, weibliche Welt durch die Vier und die geistige, männliche Welt durch die Drei symbolisiert wird. Von daher wäre es nicht so stimmig, der Trinität ein Viertes hinzuzufügen.

Andererseits geht es in der „unteren“ Welt um das Ziel der Vereinigung der Gegensätze, der Individuation, während in der „oberen“ geistigen Welt die Vereinigung (als Androgynität) als noch nicht geschieden, als untrennbar vorausgesetzt ist. Das wird in der katholischen Welt unterschlagen, während im Alten Testament z.B. Gott Vater genauso gut Gott Mutter genannt werden könnte, weil ihm mindestens ebenso viele weibliche Attribute (z.B. Barmherzigkeit) zugeschrieben werden.

Sophia — die Weisheit ist weiblich

Aber auch in der Trinität wird dem Heiligen Geist eine verbindende Eigenschaft zugeordnet: er sei das Verbindende, die Liebe zwischen Vater und Sohn. Das Verbindende ist aber unzweifelhaft eine weibliche Eigenschaft, wie auch die Liebe, die Empathie usw. Kein Wunder daher, dass in der Gnosis der Heilige Geist zur weiblichen Sophia wird. Das entspricht der Ambivalenz oder eben der Androgynität der Archetypen. „Geist“ ist zwar männlich, aber „Weisheit“ ist weiblich. Und Archetypen sind immer ambivalent.

In der Kirche ist eine katastrophale schleichende Vermännlichung festzustellen: Die Apostelin Maria Magdalena wird verschwiegen, marginalisiert und zur bekehrten Prostituierten stilisiert, weibliche Apostel werden vermännlicht, indem man ihnen einfach einen männlichen Namen umhängt. Die Diakone waren ursprünglich wahrscheinlich zu einem großen Teil Frauen, die für die Männer gesorgt haben. Das radikal emanzipatorische Verhalten Jesu gegenüber Frauen wird unterschlagen. Würde die Kirche sich in der Stellung der Frau an Jesus halten, wäre sie dem Feminismus um Jahrzehnte voraus. Es überrascht somit nicht, dass das Dogma der leiblichen Aufnahme Marias in den Himmel kein theologischer Paukenschlag war, sondern im katholisch-männlichen Grundrauschen untergegangen ist.

Von der Symbolik her hat das aber auch einen anderen Grund. Wenn wir davon ausgehen, dass die geistige Welt durch die Drei, also die Trinität charakterisiert bleibt, dann ist es nicht so ganz stimmig, der Trinität so mir nichts, dir nichts ein Viertes beizustellen, ohne für eine entsprechende Integration zu sorgen. Das ist auch nicht so einfach. Die Kirche hat seit jeher eine, sagen wir, ambivalente Haltung zur Symbolik. Dem gemeinen Volk wurde sie nie zugemutet, was sich auch darin zeigt, dass früher z.B. die Messe fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit gefeiert wurde – der Altarraum war abgetrennt vom Kirchenschiff, in dem die Gläubigen den Rosenkranz beteten. Und im Laufe der Zeit kann man eine gewisse Selbstvergessenheit der Kirche, was ihre eigenen symbolischen Grundlagen betrifft, beobachten.

Die Vereinigung der Gegensätze

In den Religionen geht es genau genommen nicht um den „Glauben an Gott“, sondern um den Menschen in dieser Welt, um das, was den Menschen zum Menschen macht – um die Menschwerdung! Um einen spirituellen Weg, der zur Individuation, zur Vereinigung der Gegensätze führt. Diese Gegensätze sind symbolisch das Weibliche und das Männliche. Dieser Weg, dieses Opus wird auch als Quadratur des Kreises bezeichnet. Es ist aber auch die Vereinigung der Vier (der materiellen Welt) mit der Drei (der geistigen Welt). Damit ist das Ziel des Lebensweges in dieser Welt angegeben: sich des Unterschieds und der Einheit der Vier und der Drei bewusst zu werden. Der Weg Israels durch die Wüste dauert vierzig Tage – er führt durch das Ganze der materiellen Welt. Aber Gott geht mit dem Volk – die Drei ist immanent und führt Israel durch die Wüste der Vier. Am Ende wird diese Einheit von Vier und Drei bewusst – was in Summe sieben ergibt. Moses als Repräsentant dieses Weges durch die Wüste kann selbst nicht mit ins gelobte Land – denn das ist der achte Tag.

Nach einem uralten Gesetz („Wie oben, so unten“) muss es diese Vereinigung der Gegensätze (von männlich und weiblich) auch „oben“ geben. Genau genommen ist „oben“ das schon präexistent, was „unten“ erst durch den Pilgerweg bewerkstelligt werden muss: die Einheit der Gegensätze. Im christlichen „Männerverein“ der Trinität war das aber verschleiert. Der Hl. Geist ist zwar das Verbindende, aber verkleidet als Männliches. Die leibliche Aufnahme Marias in den Himmel war der Versuch, das Weibliche in den Himmel, in die geistige Welt einzuschleusen. Nun steht die „Gottesmutter“ neben der Trinität, und man weiß nicht so recht, warum und wieso? Die Erschütterung des katholischen Weltbildes ist ausgeblieben.

Eine Quadratur des Kreises?

Die Frage ist daher: Wie bringt man Maria, das weibliche Prinzip, in die Trinität hinein? Eine Vier daraus zu machen, damit die Ganzheit entsteht, kann es auch nicht sein, denn die Vier ist die Ganzheit in der materiellen Welt. Die Trinität in eine Quaternio umzuwandeln, wäre eine Verweltlichung der geistigen Welt. Die „Lösung“ kann auch hier nur eine Quadratur des Kreises sein, nämlich die Gottesmutter mit dem Hl. Geist zu verschmelzen, in dem ohnehin die Sophia steckt. Außerdem sind Archetypen immer ambivalent, ganz besonders in der vorweltlichen Form. Daher ist der „Männerverein“ nicht bloß männlich, der Vater ist auch Mutter (nur eben nicht unterschieden), der Sohn auch Tochter und der Hl. Geist auch Sophia – nur jeweils als eines. Und Maria wurde ohnehin schon auf Erden zur Sophia gemacht, indem sie durch ihre unbefleckte Empfängnis dem Irdischen enthoben wurde.

Eine Alternative wäre eine andere („östliche“) Lesart der Schöpfung: Über allem ist Gott als Unendliches, Unnennbares. Der erste Impuls zur Schöpfung ist die innere Dualität in der Einheit – die Ur-Einheit, die männlich und weiblich ist und aus der dann die „zehntausend Dinge“ hervorgehen. In christlicher Lesart die Vereinigung von Gott-Vater und göttlicher Mutter/Sophia, aus der als Drittes Sohn/Tochter – die Welt der Dualität entsteht.

Das für uns Zentrale ist aber die Inkarnation: Der Hl. Geist verbindet sich mit Maria. Aus Geist (männlich) und Materie (weiblich) wird Jesus, der Christus, geboren. Maria hat durch ihre unbefleckte Empfängnis als Irdische schon etwas Göttliches an sich. Jesus ist durch seine „Eltern“ also ganz Gott und ganz Mensch. Seine Mission ist es, zu zeigen, was Menschsein bedeutet. Es geht in den Religionen um den Menschen, um das Menschsein. Er hat das „Oben“ und „Unten“, „Himmel“ und „Erde“ immer schon in sich.

Integration des Schattens

So kommt bei der Quadratur des Kreises noch eine weitere Kompilation dazu: Die Welt der Vier ist auch eine Welt der Dualität – sie hat eine helle und eine dunkle Seite, auch wenn sie nicht getrennt, sondern immer vermischt sind. Es gibt nicht nur die Welt, sondern auch eine Unterwelt. Man kann sie „Hölle“ nennen, stimmiger ist aber die griechische Bezeichnung als „Schattenwelt“. Bei Jung wäre es die Welt des Schattens. Den zu integrieren ist die erste Aufgabe auf dem Weg zur Individuation. Vor allem in der Ostkirche führt der Weg zur Erlösung Jesus zuerst in die Unterwelt („in das Reich des Todes“) am Karsamstag, ohne den es keinen Ostersonntag geben kann. Aber auch das wird unterschlagen: Der Karsamstag degenerierte zur Ruhe im Grab, wodurch die Dramatik der Befreiung der Hölle unterschlagen wurde.

Es ist daher nur folgerichtig, dass die Kirche heute massiv mit ihrem eigenen Schatten (Gestalt geworden in der Pädophilie) konfrontiert wird und dass sie sich auch mit der Anima, der Weiblichkeit auseinandersetzen oder besser zusammensetzen muss, weil sie sonst gar nicht ganz werden kann.

© 2024 Robert Harsieber