Von Robert Harsieber
Woher kommt unsere Abneigung gegen das Tierische in uns? Wir sprechen nur ganz verschämt vom Menschen als „animal rationale“. Wir betonen das „rationale“ und schieben das „animal“ lieber unter den Teppich. Wir schämen uns des Animalischen. Warum?
Zunächst ist der Mensch ein Glied in der Evolution, dessen Genom kaum über das der Tiere hinausgeht. Daher betonen wir das Rationale als etwas Besonderes, das es nicht ist, denn auch Tiere sind rudimentär rational. So besonders ist das nicht. Und doch gibt es etwas, das beim Menschen vollkommen neu ist in der Evolution:
Der Mensch ist das Tier, das sich selbst über- und unterschreiten kann —, das sich gegen die eigene Art und gegen sich selbst wenden kann.
Tiere sind das, was sie sind. Im „Roten Buch“ schreibt C.G. Jung: „Das Tier empört sich nicht gegen seine Art. (…) Das Tier lebt sittsam und getreu das Leben seiner Art und nichts darüber und darunter. (…) Wir stecken voller Vorurteile, wenn es um das Tier geht. Die Leute verstehen mich nicht, wenn ich ihnen sage, sie sollten sich mit ihren Tieren vertraut machen oder sich ihnen anpassen. (… Tiere) folgen mit schöner Regelmäßigkeit ihrem Weg, sie tun nichts Ausgefallenes. Nur der Mensch ist ausgefallen.“¹
Unsere Einstellung zu den Tieren kann man nur psychologisch sehen. Die Angst vor dem eigenen Tierischen verstellt die Sicht auf die Tiere. Da gibt es natürlich das Näheverhältnis zum Haustier, zu den „niedlichen“ und „lieben Tierchen“. Aber das ist eher eine Vermenschlichung, genauso wie das Raubtierische eine Vermenschlichung ist, denn auch Raubtiere leben nur getreu das Leben ihrer Art. Auch wenn wir einen kleinen Teil unseres Tierischen domestiziert haben – und das in Hunde- und Katzenbildern immer wieder beschwören – so bleiben die Raubkatzen und Schlangen in der Wildnis unseres inneren unbewussten Urwalds. Wir betrachten sie bestenfalls, durch Gitter geschützt, in den Käfigen der Tiergärten. Die Zoodirektoren schützen uns vor dem Raubtier in uns.
Wir haben vergessen, unser Tier zu leben.
Nehmen wir die Tiergärten: Im Zoo hindern wir die Tiere, ihr Ureigenstes zu leben. Wir ergötzen uns am Gebrüll, an den aufgerissenen Mäulern, den gefährlichen Zähnen der Tiger und Löwen. Aber wir extrahieren deren Gefährlichkeit, die uns nichts anhaben kann, weil die Tiere ja hinter sicheren Gittern sind. Weitaus natürlicher erscheinen sie uns in Tierfilmen in freier Wildbahn, wo sich ihre reduzierte Käfig-Gefährlichkeit in der Jagd nach Beute auflöst. Die Beute wird, wenn auch streng hierarchisch, so doch in jedem Fall gerecht aufgeteilt. Den Beuteüberfluss für sich zu behalten und die anderen verhungern zu lassen, ist nicht tierisch, sondern menschlich. Unsere Sicht auf Tierisches ist dahingehend verzerrt, als wir umgekehrt unser zuweilen abartig Menschliches auf die Tiere projizieren.
Bei den Tieren dreht sich alles um den Selbsterhaltungstrieb. Daher erscheint uns die Sexualität als besonders tierisch – auch wenn es andere Bereiche (etwa in der Wirtschaft) gibt, die viel „tierischer“ sind. In der Liebe kämpft immer das Menschliche mit dem Animalischen –, schon weil Liebe den ganzen Menschen erfasst. Wir aber versuchen oft, letzteres zu verdrängen oder zumindest zu verstecken. Wir vergessen, unser Tier zu leben, das wir sind, uns aber nicht eingestehen wollen. Sigmund Freud sprach vom Sublimieren des Triebhaften in die Kultur, aber das war wohl der damaligen Zeit der Verdrängung geschuldet, die das „Obere“ und „Untere“ verschämt zu trennen versuchte.
Für C.G. Jung gibt es nur einen Weg nach oben: nämlich den nach unten.
Vor der Auferstehung kommt das „Hinabgestiegen in die Hölle“. Das nicht gelebte Tierische betrachten wir mit Schaudern, wenn der Löwe seine ganze Aggression, die er im Zoo nicht ausleben kann, und seinen ganzen Schmerz darüber den Besuchern mit aufgerissenem Maul und schaurigem Gebrüll entgegenschleudert. Hier blicken wir der Gefahr ins Auge, die das nicht gelebte Tierische in uns anrichten kann, sollten die schützenden Gitterstäbe einmal auseinanderbrechen.
Animalisch gelebte Sexualität hat immer noch einen sündhaften Beigeschmack. Dabei ermöglicht sie das pralle Leben in der Vereinigung der Gegensätze, die die Basis für die Einheit aller menschlichen Dimensionen bildet, deren Klammer die Liebe ist. „Dilige et quod vis fac“ – „Liebe und tu, was du willst“, sagt Augustinus. Der Liebe ist nichts unheilig. Sie klammert nichts aus, sondern nimmt alles hinein in ihre läuternde Glut. Der Moralapostel aber sieht überall das Tierische und Teuflische, über das er sich zu erheben glaubt, während er ihm selbst längst verfallen ist.
C.G. Jung formuliert es so: „Wer sein Tier nicht lebt, muss seinen Bruder wie ein Tier behandeln.“
Die innere Käfighaltung des Tierischen führt dazu, das Ungeliebte nach außen projizieren zu müssen.
Jung setzt fort: „Erniedrige dich und lebe dein Tier, damit du deinem Bruder gerecht sein mögest. Damit erlösest du all jene Toten, die umherschweifen und an Lebendigen sich zu nähren trachten“ (S. 353).
Die zu erlösenden Toten sind die verdrängten inneren Gespenster, die uns „Lebendige“ doch nie loslassen. Zombie-Filme zum Beispiel greifen dieses Thema auf und sind wohl deshalb für viele so faszinierend. Jung weiter: „Und mache aus nichts, das du tust, ein Gesetz, denn das ist Anmaßung der Macht.“ Das klingt in diesem Zusammenhang zunächst befremdlich. Doch etwas, das leben und sich individuell entfalten will, einem starren Gesetz zu unterwerfen, hieße, es zu töten. Mit Maß bedeutet es Ordnung, als äußerste Ordnung jedoch Unterdrückung und Tod.
Somit sind wir an einem heiklen Punkt: Bei der Definition „animal rationale“ steht das „animal“ für das Lebendige, das „rationale“ (auch) für die Gefahr des Todes. Wie das Leben den Gegensatz in sich trägt und aushalten muss (Hegel), so ist auch die Ratio zwiespältig. Mit „rationale“ war damals nicht die rationale Logik gemeint, sondern die Vernunft. Vernunft kommt aber nicht wie die Logik vom Konstruieren, sondern vom „Vernehmen“. Damit ist das Rationale ein Sich-Öffnen für das Ganze oder Unendliche oder ein Sich-Begrenzen (= Definieren) im Grab der Logik. Das ist keine Abwertung der Logik, die viel Notwendiges zur Zivilisation beigetragen hat. Wir brauchen beides: Logik und Vernunft. Zusammen, d.h., komplementär sind sie das volle Leben.
¹ C.G. Jung: Das Rote Buch. Der Text. Edition C.G. Jung. Ostfildern, Patmos 2017, S. 352 f.
© 2017 Robert Harsieber